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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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riechen?!» Es war ein Angriff auf diese Umgebung, zugleich aber fühlte sie sich eingekerkert und lächerlich bestraft damit, daß sie über solche Gemeinplätze streiten mußte.
    Ihre Gespräche nahmen oft die Form an, daß Agathe spottete und reizte, damit er sich ereifere und «belle». So erwiderte sie auch jetzt und Lindner nahm den Angriff an.
    Eine wirklich männliche Seele werde nicht nur der bildenden Kunst, sondern auch dem ganzen Theaterwesen mit größter Zurückhaltung gegenüberstehen und dabei ruhig den Hohn und Spott derer über sich ergehen lassen, die zu weichlich sind, um sich konsequent jedem Sinnenkitzel zu versagen! behauptete er und bezog gleich auch die Romanliteratur mit der Bemerkung ein, daß auch die meisten Romane unverkennbar die sinnliche Unfreiheit und Überreizung ihrer Autoren atmen und die niederen Seiten des Lesers gerade durch die poetische Illusion anregen, mit der sie alles beschönigen und verhüllen!
    Er schien vorauszusetzen, daß Agathe ihn als unkünstlerisch verachte, und war um seine Überlegenheit bestrebt. «Es ist ja ein Dogma,» rief er aus «daß man alles gehört und gesehen haben müsse, um darüber mitreden zu können! Aber wieviel besser wäre es, ließe man andere schwätzen und wäre stolz auf seine Unbildung! Man rede sich nicht ein, daß es zur Bildung gehöre, Schmutz bei elektrischem Lichte zu sehen!»
    Agathe blickte ihn lächelnd an, ohne zu antworten. Seine Bemerkungen waren so trostlos unverständig, daß ihre Augen feucht wurden. Unsicher sah er diesen naß-spöttischen Blick.
    «Alle diese Bemerkungen richten sich natürlich nicht gegen die große und wahre Kunst» schränkte Lindner ein.
    Da Agathe weiter schwieg, gab er noch einen Schritt nach. «Das ist nicht Prüderie» verteidigte er sich. «Prüderie wäre selbst nur ein Zeichen verdorbener Phantasie. Aber die nackte Schönheit ruft Tragik im inneren Menschen hervor und zugleich geistige Kräfte, die diese zu entsühnen und zu lösen trachten: verstehen Sie, was ich fühle?» Er blieb vor ihr stehen. Er wurde wieder von ihr festgehalten. Er sah sie an. «Darum muß man das Nackte entweder verhüllen oder so mit der höheren Sehnsucht des Menschen verbinden,» fuhr er fort «daß es nicht knechtend und erregend, sondern beruhigend und befreiend wirkt.» So sei es auch auf den Höhepunkten der Kunst immer versucht worden, in den Gestalten des Parthenonfrieses, in Raffaels verklärten Figuren. Michelangelo verbinde die verklärten Leiber mit der übersinnlichen Welt, Tizian binde die Begehrlichkeit durch einen Ausdruck der Gesichter, der nicht aus der Welt der Naturtriebe stamme.
    Agathe stand vor ihm. «Einen Augenblick!» sagte sie. «Sie haben einen Wollfaden im Bart» und sie faßte schnell hinein und schien etwas zu entfernen; Lindner konnte nicht wahrnehmen, ob es Wirkliches oder Vorgetäuschtes sei, da er unwillkürlich und mit Zeichen keuschen Erschreckens zurückfuhr, während sie sich gleich wieder setzte. Er ärgerte sich maßlos über seine tölpische Unbeherrschtheit und suchte das durch einen rauhen Ton zu maskieren. Wie ein Sonntagsreiter ritt er weiter auf dem schlecht zu ihm passenden Worte Tragik herum. Er habe gesagt, daß die nackte Schönheit Tragik im inneren Menschen hervorrufe, und ergänzte es nun damit, daß sich diese Tragik in der Kunst wiederhole, deren Kräfte trotz allem nicht zur vollen Spiritualisierung ausreichten. Es war nicht sehr einleuchtend, aber ganz klar kam es darauf hinaus, daß die Seele des Menschen kein Schutz gegen die Sinne sei, sondern deren gewaltiges Echo. Ja, die Sinnlichkeit erlange ihre Gewalt erst dadurch, daß ihre Vorspiegelungen seine Seele erobern und erfüllen.
    «Soll das ein Geständnis sein?» fragte Agathe unverschämt trocken.
    «Wieso ein Geständnis?» rief Lindner aus. Und er setzte hinzu: «Welche arrogante Auffassung Sie haben! Welcher Cäsarenwahnsinn! Und überhaupt: was denken Sie von mir?!» Aber er floh, er wich aus dem Felde, er wich wahrhaft räumlich von Agathe zurück.
    Nichts errät der Mensch so schnell wie die innere Unsicherheit eines anderen und fällt darüber her, wie die Katze über einen krabbelnden Käfer: es war eigentlich die launische Technik des Mädcheninstituts mit seinen Liebschaften, zwischen bewunderten Großen und verliebten Kleineren, die ewige Grundform des seelischen Hörigkeitsspiels, die Agathe gegen Lindner anwandte, indem sie ebenso verständig und innig auf seine Worte einzugehen schien, als

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