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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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sie ihn kalt überfiel und abschreckte, wenn er sich in dem beiderseitigen Gefühl sicher glaubte.
    Aus der Ecke des Raumes orgelte nun seine Stimme, der er künstlich Unerschrockenheit und Tiefe verlieh, und tat so, als ob er sich im Angriff befände, indem er vorschlug: «Lassen Sie uns einmal ohne Schonung darüber reden. Machen Sie sich klar, wie unzulänglich und unbefriedigend der ganze Zeugungsprozeß als bloße Naturerscheinung ist. Selbst die Mutterschaft! Ist ihr physiologischer Mechanismus wirklich so unbeschreiblich wunderbar und vollkommen? Wieviel schreckliches Leiden bringt er mit sich, wieviel sinnlosen und unerträglichen Zufall! Wir wollen also die Naturvergötterung ruhig denen überlassen, die nicht wissen, wie das Leben ist, und öffnen unsere Augen für die Wirklichkeit: Der Zeugungsprozeß wird nur dadurch geadelt und über dumpfe Knechtschaft überhoben, daß man ihn durch Treue und Verantwortlichkeit weiht und den geistigen Idealen unterstellt!»
    Agathe schien nachdenklich zu schweigen. Dann fragte sie unerbittlich: «Warum sprechen Sie zu mir vom Zeugungsprozeß?»
    Lindner mußte tief Luft holen: «Weil ich Ihr Freund bin! Schopenhauer hat uns gezeigt, daß das, was wir für unser persönlichstes Erlebnis halten möchten, die allerunpersönlichste Erregung ist. Ausgenommen von diesem Betrug des Gattungstriebes sind aber die höheren Gefühle, Treue zum Beispiel, reine selbstlose Liebe, Bewunderung und Dienen ...»
    «Warum?!» fragte Agathe. «Gewisse Gefühle, die Ihnen passen, sollen einen überirdischen Ursprung haben und andere bloß Natur sein!?»
    Lindner zögerte, er kämpfte. «Ich kann nicht wieder heiraten» sagte er leise und heiser. «Das bin ich meinem Sohn Peter schuldig.»
    «Aber wer verlangt es denn von Ihnen? Ich verstehe Sie jetzt nicht» versetzte Agathe.
    Lindner zuckte zurück: «Ich wollte sagen, auch wenn ich könnte, täte ich es nicht» verteidigte er sich. Er nahm einen neuen Anlauf: «Freundschaft zwischen Mann und Frau erfordert überdies eine Höhe der Gesinnung, die sich damit gar nicht vergleichen läßt. Sie kennen meine Grundsätze, also müssen Sie es auch verstehen, wenn ich Ihnen danach anbiete, daß ich nichts lieber als Ihnen brüderlich dienen, gleichsam im Weibe selbst das Gegengewicht gegen das Weib erwecken, die Maria in der Eva bestärken möchte ...!» Er war nahe einem Schweißausbruch, so anstrengend war es, die strenge Linie seiner Vorsätze zu verfolgen.
    «Sie bieten mir also eine Art ewige Freundschaft an» sagte Agathe still. «Das ist schön von Ihnen. Und Sie wissen doch wohl, daß Ihr Geschenk im voraus angenommen war.»
    Sie ergriff seine Hand, wie es sich in einem solchen Augenblick gehört, und erschrak ein wenig über dieses hautige Stück fremder Mensch, das in dem Schoß der ihren lag. Auch Lindner vermochte seine Finger nicht zurückzuziehen, denn es schien ihm wohl, daß er es tun solle, doch aber auch, daß er es lassen könnte. Sogar Ulrichs Unentschlossenheit übte manchmal diesen Naturreiz aus, mit ihr zu spielen, aber Agathe verzweifelte auch, wenn sie es sich mit Erfolg tun sah, denn die Macht der Koketterie gehört mit Bestechung, List und Zwang in einen Begriff, und nicht mit der Liebe; und indem sie sich an Ulrich erinnert fühlte, sah sie dem schwanken Menschen, der in sich jetzt wie ein Kork auf- und niedertanzte, mit einer den Tränen nahen, von bösen Einfallen durchzuckten Stimmung zu.
    «Ich möchte, daß Sie mir Ihr trotziges und verschlossenes Herz öffnen» sagte Lindner zaghaft, warm und komisch. «Denken Sie nicht als einen Mann an mich. Ihnen hat die Mutter gefehlt!»
    «Gut» erwiderte Agathe. «Aber werden Sie es ertragen? Wären Sie bereit, mir auch dann Ihre Freundschaft zu bewahren,» – sie zog ihre Hand zurück – «wenn ich Ihnen sagte, ich hätte gestohlen und ich hätte Blutschande auf dem Gewissen, oder irgendetwas, weswegen man ganz aus der Gemeinschaft der anderen ausgestoßen wird?!»
    Lindner zwang sich zu einem Lächeln. «Das ist allerdings stark, was Sie vorbringen, es ist sogar äußerst unweiblich,» tadelte er «einen solchen Scherz zu wagen. Ach, was! wissen Sie, woran Sie mich in solchen Augenblicken erinnern? An ein Kind, das darauf ausgeht, einen Älteren zu ärgern! Aber dazu ist jetzt doch nicht der Augenblick» fügte er gekränkt hinzu, weil er sich in diesem Augenblick daran erinnerte.
    Plötzlich hatte aber Agathe ein Etwas in der Stimme, wovon das Gespräch bis auf den

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