Gesammelte Werke
hervorzutreiben.»
«Sie sind hochmütig und eitel!» rief Lindner aus. «Aber dahinter verbirgt sich Leid und Enttäuschung und Demütigung!» Und beinahe traf er wieder das Richtige. Aber er traf es eben doch nur beinahe, und Agathe wurde dessen (seiner) plötzlich müde und ließ ihn stehen.
Nachtrag: Obwohl das Kapitel eine breite Vorgeschichte in sich enthält, ist die Gipfelung: «Ich liebe meinen Bruder!» Was darauf folgt, bedarf wohl der Erweiterung: etwa ...: Lindner führt alles an, was vom Standpunkt einer sozialen Moral vorzuwerfen ist, und Agathes Antworten drehen sich um den Einwand: Warum kann ich nicht meinen Bruder als Mann lieben, wenn Sie als Mann mir Bruderliebe antragen.
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85
Traum
[Entwurf]
Das Verhalten ihres Bruders, die Beunruhigung, die der Besuch bei Lindner noch in ihr gesteigert hatte, regten Agathe in einer Stärke auf, die ihr selbst verborgen blieb. Sie wußte nicht, wie es geschehen war, noch wann, plötzlich war ihre Seele aus dem Körper getreten, und sah sich neugierig in der ihr fremden Welt um. Agathe träumte.
Auf dem Bett lag ihr Leib, ohne sich zu bewegen, und atmete. Sie sah ihn an und hatte eine marmorglatte Freude an seinem Anblick. Dann betrachtete sie die Gegenstände, die weiter fort in ihrem Zimmer standen, sie erkannte sie alle, aber es waren doch nicht die Dinge, die sonst ihr gehörten. Denn auch die Gegenstände lagen so außer ihr wie ihr Leib, den sie dazwischen ruhen sah. Das bereitete ihr einen süßen Schmerz!
Warum tat es weh? Wahrscheinlich weil es etwas Todgleiches hatte; sie konnte nicht wirken und sich nicht rühren, und ihre Zunge war wie abgeschnitten, so daß sie auch nichts darüber zu sagen vermochte. Aber sie fühlte eine große Kraft dabei. Worauf nur ihre Sinne fielen, das begriff sie sofort, denn alles war zu sehen und erglänzte, wie Sonne, Mond und Sterne in einem Wasser Widerscheinen. Agathe sagte zu sich: «Ihr habt meinen Körper mit einer Rose verwundet» — und wandte sich dem Bett zu, um zu ihrem Leib zu flüchten.
Da entdeckte sie, daß es der Leib ihres Bruders war. Auch er lag in dem widerscheinenden herrlichen Licht wie in einer Gruft, sie sah ihn nicht genau, aber viel eindringlicher als gewöhnlich und betastete ihn in der Heimlichkeit der Nacht. Damit hob sie ihn empor; er lastete schwer in ihren Armen, doch hatte sie trotzdem die Kraft ihn zu tragen und zu halten, und diese Umarmung war von übernatürlicher Annehmlichkeit. Der Körper ihres Bruders schmiegte sich so liebreich und gütig an sie, daß sie in ihm ruhte; wie er in ihr; nichts bewegte sich in ihr, auch die schöne Begierde nicht mehr. Und weil sie in dieser Ruhe eines waren und ohne Scheidungen, auch so ohne Scheidungen in sich selbst, daß ihr Verstand wie verloren war und ihr Gedächtnis sich auf nichts besann und ihr Wille kein Tun hatte, stand sie in dieser Ruhe wie vor einem Sonnenaufgang und ging mit ihren irdischen Einzelheiten in ihm unter. Während das mit größter Freude langsam geschah, gewahrte Agathe aber rings um sich eine wilde Menge von Menschen, die sich, wie es schien, in großer Furcht um sie befand. Sie rannten aufgeregt hin und her und gebärdeten sich warnend und unwillig. Das geschah nach der Art des Traums nahe bei ihr und ging ihr doch nicht nahe, aber nur bis der Lärm und Schreck mit einemmal gewaltig in ihre Sinne drang. Da fürchtete sich Agathe und trat schnell wieder in ihren schlafenden Leib zurück; sie wußte aber in keiner Weise, wie sich alles geändert hätte, und unterließ eine Weile das Träumen.
Nach einiger Zeit begann sie es aber doch wohl von neuem. Sie verließ abermals ihr Fleisch; diesmal begegnete sie aber gleich ihrem Bruder. Und wieder lag ihr Leib nackt auf dem Bett, und sie sahen ihn beide an, ja die Haare über dem Schamteil dieses ohnmächtig zurückgelassenen Körpers brannten wie ein kleines goldenes Feuer auf einem Grabmal aus Marmor. Weil es das Du und das Ich zwischen ihnen nicht gab, war dieses Dreisein nicht verwunderlich. Ulrich sah sie so mild und ernst an, wie sie ihn nicht kannte. Sie blickten sich auch gemeinsam in ihrer Umgebung um, und es war ihr Haus, worin sie sich befanden, aber obgleich Agathe alle Gegenstände gut erkannte, hätte sie nicht sagen können, in welchem Zimmer das geschah, und das war wieder eine seltsame Annehmlichkeit, denn es gab nichts Rechts noch Links oder Früher und Später, sondern wenn sie etwas gemeinsam anblickten, entstand ein Vereintsein wie von Wasser
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