Gesammelte Werke
mich ab oder wenigstens einen Finger!»
Sie hielten sich zu ebener Erde im Besuchszimmer auf, dessen hohe, schmale, oben runde Fenster das junge, weiche Vormittagslicht, vermischt mit Baumschatten in den spiegelnden Fußboden fallen ließen. Blickte man an sich hinunter, so war das ähnlich auszunehmen, als erblickte man unter seinen Füßen den entfärbten Himmel mit Helligkeit und Wolken durch ein bräunliches Glas. Die Geschwister hatten sich so sehr zurückgezogen, daß kaum noch die Gefahr bestand, sie könnten durch einen Besuch gestört werden.
«Du bist zu bescheiden!» fuhr Ulrich fort. «Verlange doch mein Leben! Ich glaube, daß ich es für dich von mir streifen könnte. Aber Finger? Ich muß bekennen: ein Finger, das liegt mir gar nicht!»
Er lachte. Seine Schwester mit ihm; aber ihr Gesicht behielt doch den Ausdruck des Menschen, der einen anderen über etwas scherzen sieht, das ihm selbst ernst ist.
Nun kehrte Ulrich den Spieß um: «Wenn man liebt, schenkt man, man behält nichts für sich, man will nichts allein besitzen: warum willst du Lindner für dich allein besitzen?» fragte er.
«Ich besitze ihn doch überhaupt nicht!» erwiderte Agathe.
«Du besitzt deine heimlichen Gefühle für ihn und deine heimlichen Gedanken über ihn. Deinen Irrtum über ihn!»
«Und warum schneidest du dir denn nicht einen Arm ab?!» fragte Agathe herausfordernd.
«Wir werden ihn abschneiden» gab nun Ulrich zur Antwort. «Aber im Augenblick frage ich mich noch, welches Leben daraus entstehen müßte, wenn ich wirklich alle Selbstigkeit aufgäbe und die anderen ebenso täten? Alle sich selbst mit allen gemeinsam hätten; nicht nur den Eßnapf und das Bett, sondern wirklich sich selbst, so daß jeder den Nächsten liebte wie sich selbst und keiner sich selbst am nächsten wäre.»
Agathe sagte: «Irgendwie müßte das möglich sein.»
«Kannst du dir denken, daß du einen Geliebten mit einer anderen Frau gemeinsam hättest?» fragte Ulrich.
«Ich kann es mir denken,» behauptete Agathe. «Ich kann es mir sogar sehr schön denken! Ich kann mir bloß die Frau dazu nicht denken.»
Ulrich lachte.
Agathe machte eine abwehrende Bewegung dagegen. «Ich habe eine besondere persönliche Abneigung gegen Frauen» sagte sie.
«Eben! Eben! Und ich liebe Männer nicht!»
Agathe war ein wenig beleidigt durch seinen Spott, weil sie fühlte, daß er nicht unberechtigt war, und sie sagte das nicht mehr, was sie zu sagen vorgehabt hatte.
Ulrich begann in die entstehende Leere hinein, um sie aufzumuntern, etwas zu erzählen, das er, in dem abgelenkten Zustand während des Rasierens, unlängst zusammengeträumt hatte: «Du weißt doch, daß es Zeiten gab, wo vornehme Damen,» sagte er «wenn ihnen ein Sklave gefiel, diesen verschneiden lassen konnten, so daß sie an ihm ihre Lust hatten, aber die Vornehmheit ihrer Nachkommenschaft nicht gefährdeten.»
Agathe wußte es nicht, aber sie zeigte das nicht. Dagegen erinnerte sie sich nun, einmal gelesen zu haben, daß bei irgendwelchen ungesitteten Völkern jede Frau auch alle Brüder ihres Mannes mit heirate und ihnen in allem dienen müsse, und jedesmal wenn sie sich solche sklavische Erniedrigung vorstellte, zog sie ein unwilliger, und doch nicht ganz unwillkommener, Schauder zusammen. Aber auch davon zeigte sie ihrem Bruder nichts.
«Ob so etwas oft vorgekommen ist oder nur als Ausnahme, weiß ich nicht, das spielt auch keine Rolle,» war Ulrich unterdessen fortgefahren «denn ich habe, wie ich jetzt wohl gestehen muß, nur an den Sklaven gedacht. Ich habe, genau gesagt, an den Augenblick gedacht, wo er zum erstenmal das Krankenlager verläßt und der Welt wieder gegenübersteht. Zunächst wird sich natürlich der am Eingang der Ereignisse erstarrte Wille zur Auflehnung und Abwehr wieder regen und auftauen. Aber dann muß das Bewußtsein kommen, daß es zu spät ist. Der Zorn will sich empören, aber da kommen nacheinander hinzu: Erinnerung an erlittenen Schmerz, feiges Erwachen einer Angst, der bloß das Bewußtsein entzogen worden war, schließlich jene Demut, die unwiderruflich gewordene Demütigung bedeutet, und diese Gefühle halten jetzt den Zorn nieder, so wie man den Sklaven selbst niedergehalten hat, während man den Eingriff an ihm vornahm.» Ulrich unterbrach diese sonderbare Darstellung und suchte nach Worten, seine Augenlider waren nachdenklicherweise gesenkt. «Bloß körperlich könnte er sich ja zweifellos noch ermannen,» fuhr er fort «aber eine
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