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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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und Wein, das mehr golden oder mehr silbern war, je nachdem dareingeschüttet wurde. Agathe wußte sofort: «Das ist es jetzt, wovon wir so oft gesprochen haben, die Ganze Liebe», und sie paßte genau auf, damit ihr nichts entgehe. Es entging ihr aber doch immer, wie das geschah. Sie sah darauf ihren Bruder an, aber auch er blickte mit einem steifen und verlegenen Lächeln vor sich hin. In diesem Augenblick hörte sie irgendwo eine Stimme sagen, und diese Stimme war so übermäßig schön, daß sie gar nicht irdischen Dingen gleichen mochte: «Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen; und wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer!» Und während sie dieser Stimme zuhörte und sich erinnerte, daß sie diesen Satz kenne, stieg ein Glanz in ihre Augen und drang aus ihnen hinaus, der die genaue irdische Bestimmtheit auch von Ulrich fortnahm, und sie hatte dabei nicht den Eindruck, daß ihm nun etwas fehle, sondern jedes Glied an ihr empfing davon in der Weise seiner besonderen Lust große Gnade und Seligkeit. Unwillkürlich tat sie einige Schritte auf ihren Bruder zu. Da kam er ihr von der anderen Seite in der gleichen Weise entgegen.
    Nun war nur noch ein schmaler Abgrund zwischen ihren Körpern, und Agathe fühlte, es müsse etwas getan werden. An dieser Stelle ihres Traums begann sie auch mit aller Anstrengung wieder nachzudenken. «Wenn er etwas liebt und es empfängt und genießt,» sagte sie sich «so ist er nicht mehr er, sondern seine Liebe ist meine Liebe!» Sie hatte wohl ein Empfinden dafür, daß dieser Satz so, wie sie ihn aussprach, irgendwie verwachsen und verstümmelt wäre, aber sie verstand ihn doch durch und durch, und da nahm er eine alles erklärende Bedeutung an. «Im Traum» erläuterte sie es sich «darf man nicht überlegen, da geschieht alles!» Denn alles, was sie überlegte, glaubte sie geschehen zu sehn oder vielmehr, was geschah und an der Wollust des Stoffes teilhatte, hatte auch an der Wollust des Geistes teil, die als Gedanke in sie drang, wie es tiefer nicht möglich ist. Es schien ihr das eine große Überlegenheit über Ulrich zu geben; denn während dieser nun wieder hilflos dastand, ohne sich zu regen, stieg nicht nur der gleiche Glanz in ihre Augen wie vorhin und füllte sie, sondern sein feuchtes Feuer brach mit einemmal auch aus ihren Brüsten und hüllte alles, was ihr gegenüber war, in ein unbeschreibliches Empfinden. Von diesem Feuer wurde nun ihr Bruder erfaßt und begann darin zu brennen, ohne daß das Feuer weniger oder mehr würde. «Nun siehst du!» dachte Agathe. «Man hat es immer falsch gemacht! Man baut immer eine Brücke aus hartem Stoff und kommt immer nur an einer Stelle zu einander hinüber: man muß aber den Abgrund an allen Stellen überschreiten!» Sie hatte ihren Bruder an den Händen erfaßt und wollte ihn an sich ziehen: da löste sich, während sie zog, aber ohne eigentlich verändert zu werden, der brennende nackte in einen Busch oder eine Wand herrlicher Blumen auf und kam in dieser Gestalt lose näher. In Agathe schwanden alle Absichten und Gedanken; sie lag ohnmächtig vor Wollust auf ihrem Bett, und während die Wand durch sie hindurchschritt, glaubte sie auch, daß sie weiter große Bäche von weichhäutigen Blüten durchwandern müsse, und sie ging, ohne den Zauber vergehen machen zu können. «Ich bin ja verliebt!» dachte sie, wie einer einen Augenblick findet, wo er Luft zu schöpfen vermag, denn sie konnte ihre ungeheure Erregung, die nicht enden wollte, kaum noch ertragen. Sie sah auch ihren Bruder nicht mehr seit der letzten Verwandlung, aber er war nicht verschwunden.
    Und damit wachte sie auf, daß sie ihn suchte; aber sie fühlte, daß sie noch einmal zurückwollte, denn das Glück hatte eine solche Steigerung erreicht, daß es immer mehr wurde.
    Sie war ganz verwirrt, als sie aus dem Bett stieg: in ihrem Kopf war die beginnende Wachheit und in allen anderen Teilen ihres Körpers noch der nicht beendete Traum, der scheinbar kein Ende haben wollte.
    [◁]
86
    Zu viel Süße oder Die drei Schwestern
    [Entwurf und Studie]
    Seit dem Traum war ein Vorsatz in Agathe, ihren Bruder zu einem tollen Versuch zu verleiten. Er war ihr selbst noch nicht klar.
    Ulrich fragte: «Was willst du von mir, meine Kleider, meine Bücher, mein Haus, meine Aussichten auf die Zukunft? Was soll ich dir schenken? Ich möchte dir alles geben, was ich habe.»
    Agathe erwiderte: «Schneide dir einen Arm für

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