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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Ulrich tat es nicht, sondern entschuldigte sie bloß lächelnd mit dem Scherz, daß sie eben selbst durch einen Detektiv nichts mehr von ihrem Gatten wissen wolle; und der Scheidungsanwalt seufzte mit einemmal ritterlich ergeben, denn er mochte die Besprechung schon beenden. Er versicherte nun, daß sie auch so ans Ziel kommen wollten, und schob Agathe die Prozeßvollmachten zur Hand, die sie unterschreiben sollte.
    Schon als sie die Treppe hinabstiegen, schob Ulrich seinen Arm unter den Agathes, und unwillkürlich blieben sie in dem Augenblick, wo das geschah, stehen.
    «Wir waren eine Stunde in der Wirklichkeit!» sagte er.
    Agathe sah ihn an. Der Schmerz schloß den Hintergrund ihrer hellen Augen ab wie eine Steinmauer.
    «Bist du sehr niedergeschlagen?» fragte er teilnehmend.
    «Das bedeutet eine solche Erniedrigung, daß wir uns ihr entziehen müßten» gab sie langsam zur Antwort.
    «Das ist sehr die Frage» meinte Ulrich.
    «Eine wirkliche Erniedrigung, wie man mit dem Mund in den Staub fällt! Etwas, das wir uns vorzustellen in der letzten Zeit verlernt haben!» wiederholte Agathe mit leiser heftiger Stimme.
    «Ich meine, es ist die Frage, ob wir uns dieser Erniedrigung entziehen dürfen» erwiderte Ulrich. «Vielleicht drohen uns auch noch viel größere. Ich muß dir gestehen, daß ich heute von unserer Lage beinahe den Eindruck habe, daß sie schlimm sei. Denn gesetzt, wir gäben nach: Wir könnten vielleicht noch einen Irrtum vorschützen, eilig gutmachen, verschleiern. Aber es hinge von ihm ab, das anzunehmen oder nicht, und er wird auf dich nicht verzichten, ja er wird, da er einmal Verdacht geschöpft hat, seine Waffe nicht eher aus der Hand legen, als du dich ihm bedingungslos unterworfen hast. Das ist einfach seine Ordentlichkeit» sagte Ulrich, da Agathe das Ende seiner Rede nicht abwarten zu wollen schien. «Andrerseits können wir natürlich dem Vorschlag unseres Anwalts oder einem ähnlichen Plan folgen und versuchen, ihn mürbe zu machen, aber was haben wir davon? Gesteigerte Gefahr, denn der Gegner wird sich durch unseren Angriff aller Rücksichten entbunden fühlen, und als Erfolg bestenfalls außer der Scheidung den, daß wir einen tief gleichgültigen Menschen böswillig geschädigt haben.»
    «Und die Schuld der Existenz?!» wandte Agathe leidenschaftlich ein, obgleich sie sich mit Gewalt zwang, einen Scherz daraus zu machen. «Was du selbst oft gesagt hast, daß die einzige reingebliebene Frau die ist, die ihre Liebhaber köpfen läßt?!»
    «Habe ich das gesagt? Da könnte man den Erdball in die Luft sprengen!» sagte Ulrich ruhig. «Wenn man alle Zeugen seiner Fehler beseitigen wollte!» Und er fügte nachdenklich hinzu: «du verkennst noch immer den Gewöhnlichkeitsgrad, die greifbare Schwierigkeit der Lage, in der wir uns befinden: Wir sind auf die eine wie die andere Weise von Vernichtung bedroht und haben nur die Wahl, es zu bleiben oder –»
    «Uns zu töten!» sagte Agathe kurz und bestimmt.
    «Ach, was du sagst! Das klingt zwischen den Steinen solchen Treppenhauses! Hoffentlich hat es niemand gehört!» Er verwies es ihr ärgerlich und blickte sich vorsichtig um. «Es ist bekanntlich nicht einmal sicher, daß der Tod besser sei als Gefängnis. Aber wir können uns ja der Wahl auch dadurch entziehen, daß wir fliehen.»
    Agathe sah ihn an, und ihre Augen glichen in diesem Nu unwillkürlich denen eines Kindes, das getobt hat und auf den Arm genommen wird.
    «Auf eine Insel in der Südsee» sagte Ulrich und lächelte. «Aber vielleicht genügt auch schon eine in der Adria. Wohin uns einmal in der Woche ein Boot den Bedarf bringt.»
    Sie waren benommen, als sie unten am Tor standen und vom Anprall der sommerlichen Straße getroffen wurden. Ein weißliches Feuer, in dem helle Schatten lebten, schien sie zu erwarten. Die Menschen, Tiere, der Straßenrahmen und auch sie selbst verloren in den heißen Lichtstrahlen etwas von ihrer körperlichen Gebundenheit. Agathe hatte gesagt: «Du hast es noch nie wollen! Dazu bin ich dir doch zu wenig?» Ulrich erwiderte: «Oh, wir wollen das nicht in dieser Weise besprechen! Es ist schwieriger als der Entschluß, der Welt zu entsagen. Denn wenn wir einmal geflohen sind, gerät hier, im wirklichen Leben, das uns als das unsere auferlegt war, alles ins Schlimme, und es gibt kaum eine Umkehr, obwohl wir gar nicht wissen, ob dort, wohin wir wollen, ein Boden ist, auf dem Menschen anders als in Träumen stehen können. Wenn ich noch immer überlege,

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