Gesammelte Werke
eine Frau lieben wie seine Eingeweide, aber nicht wie eine Vergrößerung des Mutes, der Kraft und so weiter.)
«Du verstehst mich nicht!» sagte Clarisse. «Ich habe die Kraft, mich in einen Hermaphroditen zu verwandeln. Ich werde euch im Männerbund sehr nützen. Du hörst, daß ich sehr ruhig spreche, aber gib auch acht, was ich sage: Sieh diese Bäume an und diesen runden Himmel darüber. Dein Atem geht weiter, dein Herz geht weiter, in deinen Eingeweiden arbeitet die Gesundheit. Aber je länger du hinsiehst, desto mehr saugt sich das Bild aus dir heraus. Dein Körper bleibt allein auf seinem Platz stehn. Die Welt saugt dich auf, sage ich. Deine Augen machen dich zum Weib. Und wenn all dein Gefühl oben anlangen könnte, würdest du für die Welt tot sein, und dein Leib zerfallen.
Habe ich recht? Aber es gibt andere Tage. Da drängen alle deine Muskeln und Gedanken. Da bin ich Mann. Da stehe ich hier und hebe den Arm, und der Himmel schießt in meinen Arm hinab. Als ob ich ein Tuch herunterrisse, sage ich dir. Ich bin nicht größenwahnsinnig. Auch mich reißt mein Arm von dort fort, wo ich stehe. Ob ich tanze, ob ich kämpfe, ob ich weine oder singe: nur meine Bewegungen, mein Gesang, meine Tränen bleiben übrig, die Welt und ich sind zersprengt.
Glaubst du mir jetzt, daß ich in den Männerbund gehöre?!»
Meingast hatte mit unsicherem und beinahe ängstlichem Ausdruck Clarisse zugehört. Nun beugte er sich herab und küßte ihre Stirn. Seine Worte beseligten Clarisse. «Ich habe dich nicht gekannt!» sagte er. «Aber es geht trotzdem nicht. Die Liebe einer Frau macht mich unfruchtbar.»
Damit ging er langsam, mit seinen hochgehobenen Schritten durch die Wiesen auf dem kürzesten Wege dem Haus zu. Clarisse lief ihm nicht nach und ließ kein Wort ihm nachlaufen. Sie wußte, er reist ab. Sie wollte warten, ihm den Abschied ersparen. Sie war sicher, daß er Zeit brauchte, mit ihrem Vorschlag fertig zu werden, und daß sie bald ein Brief rufen würde. Ihre Lippen murmelten noch Worte wie zwei kleine Geschwister, die ein erregendes Ereignis besprechen; sie verwies es ihnen und verschloß sie.
Ergänzung Hermaphrodit: Das mit Ulrich erscheint ihr daneben blaß, unausgefüllt, sozusagen literarisch— zum erstenmal wieder so wie einst, wenn die jungen Mädchen Heimlichkeiten hatten. Schließlich weißt du doch, was es heißt, verheiratet sein, und du weißt, wie Walter ist. (Jeder dieser Sätze kommt ihr wie eingangs vor.) Ich bin manchmal Mann. Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes «vergangen»; ich stoße!; ich durchdringe ihn! – Ich gehöre niemandem, ich bin so stark, daß ich mit mehreren Männern gleichzeitig Freundschaft haben könnte. Eine Frau liebt wie ein großer Topf, der alles Feuer in sich zieht. Clarisse sagt von sich: Nicht wie eine Frau lieben, sondern wie ein tapferer kleiner Fox einen großen Hund gegen den er ohnmächtig ist. Oder wie ein tapferer Hund seinen Herrn ... Ich bin Knappe, entwaffne dich, entwaffne dich dann bloß noch um einen Grad mehr. Kein Glied rühren können vor Übermacht. So liebst du Knaben. Die jungen Menschen. Aber ich bin auch Mensch, warum denn bloß Frau.
Aber sie ist – Hermaphrodit – doch auch Frau? Vielleicht so schildern: wie wenn sich das ein Mann schön vorstellt.
Ich gehe meinen Weg, ich habe meine Aufgaben; aber du öffnest mir das Kleid und fällst mich an und ziehst meine Ohnmacht aus mir heraus. Und ich lehne mich an dich, unglücklich über das, was du mir antust, und kann nicht widerstehen. Und gehe weiter und habe einen schwarzen Flor an meinem Helm.
Wir kämpfen Arm an Arm und sind wie das Bad nach der Schlacht.
Konkret: Ich habe den Charakter und die Pflichten eines Mannes. Ich will (diesmal) nicht Kind und nicht Liebe, sondern das tiefe Phänomen der Lust, der Reinigung (Erlösung) durch Schwäche. Ich dir wie du mir, wenn auch Diener und Herr.
Ich werde ein Bein an das deine stemmen und das andere um deine Hüfte schlingen, und deine Augen werden sich verschleiern. Ich werde frech sein und meine Angst (Ehrfurcht, Scheu) vor dir vergessen.
Die Frau hat weibliche Empfindungen für den überlegenen Mann, männliche für den unterlegenen. Es entsteht also etwas Hermaphroditisches, ein seelisches Verschlungensein zu dritt.
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Peter und Agathe
[Früher Entwurf]
Als Agathe das nächstemal Professor Lindners Wohnung betrat, schien er diese kurz zuvor fluchtartig verlassen zu haben. Die unverbrüchliche Ordnung in Zimmern und
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