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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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bemerkte das erst, als er noch zweimal vergeblich abzog. Er machte den Eindruck eines Verrückten, bleich, das Haar hing ihm in die Stirn, ein Einfall hatte ihn gepackt und weit von sich fortgerissen. Im Haus schlugen Türen, man horchte; langsam ergriff mit solchen Eindrücken die Vernunft wieder von ihm Besitz.
    Agathe hatte weder die Hand gehoben, noch den leisesten Laut ausgestoßen, um die Zerstörung des kostbaren Flügels zu hindern oder aus der Gefahr zu fliehen. Sie empfand keine Furcht, und obgleich ihr das Beginnen ihres Bruders wahnsinnig vorkommen konnte, erschreckte sie dieser Gedanke nicht. Sie nahm es hin wie ein angenehmes Ende. Die sonderbaren Wundschreie des getroffenen Instruments erregten in ihr die Vorstellung, daß sie in einem Schwarm phantastisch flatternder Vögel die Erde verlassen müsse.
    Ulrich nahm sich zusammen und fragte sie, ob sie ihm böse sei; Agathe verneinte es mit strahlenden Augen. Sein Gesicht nahm den gewöhnlichen Ausdruck wieder an. «Ich weiß nicht,» sagte er «warum ich es getan habe. Ich habe dem Einfall nicht widerstehen können.»
    Agathe probte nachdenklich ein paar einsame Saiten aus, die übrig geblieben waren.
    «Ich komme mir wie ein Narr vor ...» bat Ulrich und schob seine Hand vorsichtig in das Haar seiner Schwester, als ob die Finger dort Schutz vor sich selbst finden könnten. Agathe zog sie am Handgelenk wieder hervor und entfernte sie von sich. «Was ist dir eingefallen?» fragte sie.
    «Ich weiß es nicht» sagte Ulrich und machte eine unbewußte Bewegung mit den Armen, als ob er die Umklammerung von etwas Zähem von sich abstreifen und fortstoßen wollte.
    Agathe sagte: «Wenn du das noch einmal wiederholen wolltest, würde eine ganz gewöhnliche Schießübung daraus werden.» Plötzlich stand sie auf und lachte. «Jetzt wirst du das Klavier ganz neu herrichten lassen müssen. Was wird jetzt nicht alles daraus; Bestellungen, Erklärungen, Rechnungen ...! Schon deshalb kann man so etwas nicht wiederholen.»
    «Ich habe es tun müssen» erklärte Ulrich schüchtern. «Ich hätte ebenso gerne in einen Spiegel geschossen, wenn du dich gerade darin angesehen hättest.»
    «Und nun bestürzt es dich, daß man so etwas nicht zweimal tun kann. Aber gerade das war doch schön.» Sie schob ihren Arm in seinen und näherte sich ihm. «Du willst doch sonst nie etwas tun, von dem du nicht weißt, was daraus wird!»
    [◁]
88
    Beim Rechtsanwalt
    [Entwurf]
    Waren ihre Seelen zwei Tauben in einer Welt von Habichten und Eulen? Ulrich hätte es nie über sich gebracht, etwas Ähnliches gelten zu lassen, und liebte darum zu bemerken, ja fand eine Art Sicherheit darin, daß die äußeren Geschehnisse keine Rücksicht auf die Entzückungen und Befürchtungen der Seele nahmen, sondern ihrer eigenen Logik folgten. Seitdem ihn Hagauers Briefe gezwungen hatten, einen Rechtsanwalt um Rat zu fragen, hatte sich auch Hagauer an einen Berater gewandt, und da nun die beiden Rechtsbeistände Briefe wechselten, war eine «causa» entstanden, unabhängig von ihren persönlichen Ursprüngen und gleichsam mit überpersönlichen Vollmachten ausgerüstet. Diese Sache zwang Ulrichs Anwalt, um Agathes persönlichen Besuch zu bitten; und als sie nicht kam, sich zu wundern, und als sie später noch immer nicht kam, ernsthafte Vorstellungen zu erheben, die schließlich Ulrich durch die Ausmalung der üblen Folgen in die Notlage versetzten, den Widerstand seiner Schwester zu überreden. Als sie bei ihrem Beistand erschienen, waren dadurch dem Verlauf schon gewisse Geleise gelegt. Sie hatten einen gewandten und gefestigten Mann vor sich, nicht viel älter als sie selbst, der, gewohnt, selbst an der Stätte des Gerichts zu lächeln und höflichen Gleichmut zu bewahren, auch im Verkehr mit Auftraggebern von dem Grundsatz ausging, daß man sich von allen Dingen und Menschen zuvörderst selbst ein Bild zu machen habe und sich von dem Klienten, der immer unzuverlässig und zeitverschwenderisch sei, möglichst wenig beirren lassen dürfe.
    Agathe erklärte denn auch nachträglich, daß sie sich die ganze Zeit über eigentlich als «Rechtspatientin» vorgekommen wäre und das traf insofern die Wahrheit, als alle ihre Antworten auf die einleitenden und grundlegenden Fragen ihres Anwalts geeignet waren, diesen in einem zweifelnden Urteil zu bestärken. Seine Aufgabe war schwierig. Eine Scheidung von «Tisch und Bett», die leicht zu erreichende «Trennung», genügte den Wünschen seiner Vollmachtgeber

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