Gesammelte Werke
beleben, verschloß ihm den Mund.
«Natürlich habe ich kein Recht, dir Vorschriften zu machen» wiederholte Agathe. «Was gebe ich dir denn! Aber weshalb wirfst du dich an solch eine Person fort! Ich könnte mir vorstellen, daß du eine Frau liebst, welche ich bewundere. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber es muß doch nicht jede Liebkosung, die man einem Menschen gibt, allen anderen weggenommen sein.»
– Sie fühlte dabei, so würde sie es sich wünschen, wenn sie diesen Traum verlassen und wieder einen Mann haben sollte — «Innen können sich mehr als zwei Menschen umarmen, und alles Äußere ist ja doch nur –» Sie stockte, aber plötzlich fiel ihr der Vergleich ein: «ich könnte mir vorstellen, daß der, welcher den Körper umarmt, nur der Schmetterling ist, welcher zwei Blumen verbindet –»
Der Vergleich kam ihr etwas zu poetisch vor. Während sie ihn aussprach, fühlte sie lebhaft das warme und gewöhnliche Frauenempfinden: Ich muß ihm etwas geben und ihn entschädigen –––––
Ulrich schüttelte den Kopf. «Ich habe» sagte er ernst «einen schweren Fehler begangen. Aber es war nicht so wie du denkst. Es ist schön, was du sagst. Diese Seligkeit durch einen mechanischen Reiz, dieses plötzliche, von der Haut ausgehend, verändert und vom Gott ergriffen Werden, dem Menschen zuzuschreiben, der gerade das Werkzeug ist, ihm durch Vergötterung oder Haß eine besondere Stellung zu geben, ist im Grund so primitiv wie der Kugel bös zu sein, die einen trifft. Aber ich bin zu kleingläubig um mir vorzustellen, daß man solche Menschen finden könnte.» (Hält ihre Hand – es ist eine weitweg getragene Stimmung.)
Als seine Hand jetzt an ihr Verzeihung suchte, schloß Agathe ihren Bruder in die Arme und küßte ihn. Und unwillkürlich, erschüttert, tröstend-schwesterlich und dann ohne Herrschaft darüber, schloß sie ihre Lippen zum erstenmal ganz mit jener ungeminderten Frauenheftigkeit an den seinen auf, welche die volle Frucht der Liebe bis ins Innerste öffnet.
Schließlich saßen sie eine Weile, hielten sich an den Händen und trauten sich weder etwas zu sagen, noch zu tun. Es war ganz dunkel geworden. Agathe fühlte eine Verlockung sich auszukleiden, ohne ein Wort zu sprechen. Vielleicht lockte das Dunkel auch Ulrich zu ihr hinüberzukriechen oder etwas ähnliches zu tun. Beide wehrten sich gegen diese Handlungstypen formende Kraft der Geschlechtslust (oder so ähnlich). Hätte sie es nicht getan, so ... alles vorbei ... Aber Agathe fragte sich: Warum geschieht nichts? (Warum nicht ...?: ––––––– gewissermaßen: warum versucht er es nicht!)
Und als es nicht geschah, fragte sie ihren Bruder: willst du jetzt nicht Licht machen?
Ulrich zögerte. Aber dann machte er aus Furcht Licht.
Und es stellte sich heraus, daß er etwas vergessen hatte, das er selbst besorgen mußte. Es war einleuchtend, daß er es besorgen mußte und sollte höchstens dreiviertel Stunde dauern, und Agathe redete ihm selbst zu, es zu tun. Er hatte jemand, der wichtig war, einen Bescheid versprochen, und telefonisch ließ sich das nicht machen. So zog sich das natürliche Leben bis in diese Stunde hinein, und war eben das natürliche Leben, und nachdem sie sich getrennt hatten, wurden beide traurig.
Ulrich wurde so traurig, daß er beinahe umgekehrt wäre, doch fuhr er weiter; Agathe dagegen wurde so traurig, wie sie es noch nie in ihrem Leben gewesen war. Im Gegensatz zu allem andern kam ihr diese Trauer geradezu unnatürlich vor; sie erschrak und spürte sogar ein neugieriges Staunen. Das Unnatürliche war eine besondere Eigenheit. Soweit diese Trauer überhaupt für etwas anderes neben sich Platz ließ; gleichsam wie einen Schimmer an ihrem Rand. Tiefste Trauer ist überdies nicht schwarz, sondern dunkelgrün oder dunkelblau und hat die Weichheit des Samtes; sie ist nicht sowohl Vernichtung als vielmehr eine seltene positive Qualität. Dieses tiefe Glück in der Trauer, das Agathe sofort spürte, hat seinen Ursprung wahrscheinlich darin, ... daß mit der ausschließlichen Herrschaft jedes einzelnen Gefühls das Glück verbunden ist, von allen Widersprüchen und Unentschlossenheiten nicht auf eine kalte, pedantische, unpersönliche! Weise wie durch die Vernunft, sondern großmütig befreit zu sein. In jedem großgewordenen Mut und Unmut steckt die Qualität des Großmuts. Ohne einen Augenblick überlegen zu müssen, erinnerte sich Agathe, wo sie ihr Gift bewahre, und stand auf, es zu
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