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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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unpassende Reden geführt!»
    «So ist es! – Die erste Erwiderung des Menschen auf alle Eingriffe und Angriffe von außen geschieht mittels der Stimmwerkzeuge –» zitierte er seinen Vater. «Darum hat er mir heute und morgen den schulfreien Tag durch Zimmerarrest verdorben, hält strenges Schweigen gegen mich ein und hat mir verboten, mit irgendeinem im Haus ein Wort zu sprechen. Das Dritte» spottete er «ist die Beherrschung des Nahrungstriebes –»
    «Aber Peter, nun müssen Sie mir endlich auch sagen,» unterbrach ihn Agathe belustigt «was Sie eigentlich angestellt haben?»
    Der Junge war durch das Gespräch, worin er vor der zukünftigen Mutter seinen Vater verhöhnte, in beste Laune gekommen. «Das ist nicht so einfach, Agathe» erwiderte er unverschämt. «Es gibt nämlich etwas, müssen Sie wissen, das der Alte so fürchtet wie der Teufel das Weihwasser: das sind Witze. Die Kitzel des Witzes und Humors, sagt er, kommen aus der müßigen Phantasie und der Bosheit. Ich muß sie immer hinunterschlucken. Das ist segensreich für den Charakter. Weil, wenn wir den Witz näher betrachten, —»
    «Also Schluß!» gebot Agathe. «Worüber haben Sie Ihren verbotenen Witz gemacht?»
    «Über Sie!» sagte Peter und bohrte seine Augen herausfordernd in ihre. In diesem Augenblick zuckte er aber zusammen, denn es klingelte, und beide erkannten an der Art des Zeichens Professor Lindner. Ehe Agathe Vorwürfe machen konnte, preßte Peter seine Fingernägel schmerzhaft in ihre Hand und drückte sich aus dem Zimmer. (Anmerkung: Agathe deutet Peter ihre Abreise mit Ulrich an.)
    [◁]
91
    Krisis und Entscheidung
    [Früher Entwurf und Studie]
    Agathe hatte eine Haarnadel gefunden. Damals nach Bonadeas Besuch, den ihr Ulrich verschwieg. Sie saß am Divan, sprach mit ihrem Bruder, die Hände zu beiden Seiten voll lässiger Sicherheit in die Polster gestützt, und plötzlich fühlte sie das kleine eiserne Ding zwischen den Fingern. Ihre Hände wurden ganz verwirrt davon, ehe sie es hervorgezogen. Sie sah die Nadel an, welche von einer fremden Frau herrührte, und das Blut stieg ihr in die Wangen.
    Ein wenig hätte man auch darüber lachen können, daß Agathe mit solcher Sicherheit wie eine beliebige eifersüchtige Frau aufs nichts anderes riet als das Richtige. Aber obgleich es leicht gewesen wäre, den Fund anders zu erklären, machte Ulrich keinen Versuch dazu. Auch ihm war Röte in die Wangen geschossen.
    Endlich bezwang sich Agathe, aber ihr Lächeln war bestürzt.
    Ulrich gestand ihr in halben Worten den Überfall Bonadeas.
    Sie hörte ihm unruhig zu. «Ich bin nicht eifersüchtig,» sagte sie, «ich habe ja gar kein Recht darauf. Aber –»
    Dieses Aber suchte sie zu finden; der Beweis sollte die Wildheit verdecken, die sich in ihr dagegen empörte, daß eine andere Frau ihr Ulrich wegnahm.
    Frauen sind eigenartig naiv, wenn sie von den «Bedürfnissen» der Männer reden. Sie haben sich einreden lassen, daß dies unaufhaltsame Gewalten sind, eine Art schmutziges, aber doch grandioses Leiden der Männer, und scheinen weder zu wissen, daß sie selbst durch längere Entbehrung genau so toll werden, noch daß die Männer sich nach einiger Übergangszeit an den Verzicht nicht viel schwerer gewöhnen als sie; der Unterschied ist in Wahrheit mehr ein moralischer als ein physiologischer, nämlich der der Gewohnheit, sich Wünsche zu gewähren oder zu versagen. Aber manchen Frauen, welche Gründe dafür zu haben glauben, daß ihre Begierde sie nicht überreden dürfe, ist diese Vorstellung, daß der Mann sich nicht beherrschen dürfe, ohne Schaden zu nehmen, ein willkommener Anlaß, um das leidende Mann-Kind in ihre Arme zu schließen, und auch Agathe – durch das Verbot, dem Bruder gegenüber der sonst unzweideutigen Stimme des Herzens zu folgen, in die Rolle einer etwas frigiden Frau gebracht – wandte unbewußt diese List in ihrem Innern an.
    «Ich glaube dich ja zu verstehen,» sagte sie «aber: – aber du hast mir weh getan.»
    Als Ulrich sie um Verzeihung bitten wollte und den Versuch machte, ihr Haar oder ihre Schultern zu streicheln, sagte sie: «Ich bin dumm ...», schauderte etwas und entzog sich ihm.
    «Wenn du mir ein Gedicht vorliest,» versuchte sie es zu erklären «und ich werde mir nicht versagen können, dabei in die neue Zeitung zu schauen, so würdest du doch auch enttäuscht sein. Genau so hat es mir weh getan. Deinethalben!»
    Ulrich schwieg. Der Verdruß, durch Erklärungen das Geschehene noch einmal zu

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