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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Geist in Szene zu setzen. «Was wollen Sie!» rief er aus. «Dem Mediziner ist eben alles Medizin, und dem Juristen alles Jus! Das Gerichtswesen geht letzten Endes von dem Begriff ‹Zwang› aus, der dem gesunden Leben angehört, aber ohne Bedenken meist auch auf Kranke anzuwenden ist. Ebenso ist aber der Begriff ‹Krankheit› mit seinen Konsequenzen, von dem wir Ärzte ausgehn, auf das gesunde Leben anwendbar. Das wird niemals unter einen Hut gebracht werden!»
    «Das gibt es doch nicht!» rief Clarisse aus.
    «Doch, das gibt es!» beschwerte sich sanft der Arzt. «Die menschlichen Wissenschaften haben sich zu verschiedenen Zeiten und zu Zwecken entwickelt, die miteinander nichts zu tun haben, So haben wir von der gleichen Sache die verschiedensten Begriffe. Zusammengefaßt ist das höchstens im Konversationslexikon. Und ich wette, daß nicht nur ich und der Pfarrer, sondern auch Sie und beispielsweise Ihr Herr Bruder oder Ihr Gatte und ich von jedem Wort, das wir dort aufschlügen, jeder nur eine Ecke des Inhalts und natürlich jeder eine andere kennten. Besser hat die Welt das nicht zustande gebracht!» – Friedenthal hatte sich über Clarisse gelehnt, die in einer Fensternische stand, und stützte seinen Arm gegen das Fensterkreuz. Etwas echtes Empfinden klang aus seinen Worten. Er war ein Zweifler. Die Unsicherheit seiner Wissenschaft hatte ihm die Augen geöffnet für die Unsicherheit alles Wissens. Er wäre gern eine Persönlichkeit gewesen und ahnte in seinen besten Stunden, daß ihm das lähmende Durcheinander dessen, worüber es Wahrheit gebe, noch nicht gebe, oder niemals geben werde, nicht mehr gestatte als eine unfruchtbare und eitle Subjektivität. Er seufzte und fügte hinzu: «Manchmal ist mir zumute, die Fenster dieses Hauses seien nichts als Vergrößerungsgläser ...!»
    Clarisse fragte ernst: «Können wir noch ein wenig zu Ihnen gehn» Hier vermag ich nicht zu sprechen.» Unter dem Schild ihrer Wimpern schossen zwei Pfeile hervor. Friedenthal löste langsam die Hand vom Fenster und den Blick von ihrem Auge. Dann löste er auch seine Gedanken aus ihrer geoffenbarten Versunkenheit und sagte, während sie den Fliesengang entlang weiterschritten: «Dieser Pfeiffer ist eine sehr merkwürdige Figur. Er führt ein Leben ohne Freuden und Geliebte, aber er hat die größte Sammlung von Bildern, Andenken, Prozeßberichten und allem, was mit den Todesurteilen der letzten zwanzig oder dreißig Jahre zusammenhängt. Ich habe sie einmal gesehn. Merkwürdig. Laden voll seiner ‹Opfer›: geputzte und rohe, vom Verbrechen gezeichnete und ganz alltägliche Gesichter von Männern und Frauen lächeln einem aus vergilbtem Zeitungspapier und verblaßten Lichtbildern entgegen oder blicken in ihre unbekannte Zukunft. Dazu Kleiderreste, Strick-Enden – richtige ‹Galgenstricke›, Spazierstöcke, Giftflaschen: kennen Sie das Museum in Zermatt, wo das aufbewahrt wird, was von denen, die ringsum von den Bergen abstürzen, übrigbleibt? Einen ähnlichen Eindruck macht es. Er hat offenbar ein zärtliches Verhältnis dazu. Man kann es auch merken, wenn er von den ‹Opfern› erzählt, zu deren gesetzlicher Ermordung, oder wie Sie es nennen wollen, er selbst beigetragen hat. Ein guter Beobachter gewahrt da vielleicht etwas wie eine Rivalität, Gehirntriumph, Geschlechtslust ... Alles natürlich gänzlich innerhalb der Grenzen des Erlaubten und wissenschaftlich Zulässigen. Aber man kann wohl sagen, daß die Beschäftigung mit der Gefahr gefährlich macht –»
    «Er jagt sie?» fragte Clarisse gepreßt.
    «Ja, man kann fast sagen, er ist ein Jäger, der sein Wild liebt.»
    Clarisse erstarrte: sie wußte nicht, wie ihr geschah. Friedenthal hatte sie auf einem teilweise anderen Weg zurückgeführt und öffnete bei seinen Worten die Türe eines Saals, den sie durchschreiten mußten und der das Herrlichste zu enthalten schien, was sie je gesehen hatte. Es war ein großer Saal, und sie glaubte in ein lebendes Blumenbeet zu blicken. Es war der Saal der hysterischen Frauen, den sie durchschritten. Sie standen einzeln und in kleinen Gruppen umher und lagen ringsum in den Betten. Sie schienen alle blütenweiße Kleider zu tragen und aufgelöstes nachtschwarzes Haar zu haben. Clarisse konnte keine Einzelheiten erfassen, das Ganze glich etwas unsagbar Schönem und dramatisch Bewegtem. «Schwestern!» fühlte Clarisse gewaltig und reich in dem Augenblick, wo ihr und Friedenthal Aufmerksamkeit in unregelmäßigen Zügen

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