Gesammelte Werke
zu urteilen» verteidigte sich der Arzt. «Sie haben es doch schon gehört: Ich soll beurteilen, ob sein freier Wille bei der Tat ausgeschlossen war, ob sein Bewußtsein während der Tat abwesend war, ob er Einsicht in sein Unrecht besaß: lauter metaphysische Fragen, die für mich als Arzt gar nicht so zu stellen sind, bei denen ich aber doch auch auf den Richter Rücksicht nehmen muß!»
Clarisse ging in ihrer Aufregung wie ein Mann im Zimmer auf und ab. «Dann dürfen Sie sich nicht dazu hergeben!» rief sie hart aus. «Dann muß es eben anders versucht werden, wenn Sie gegen den Richter nicht aufkommen können!»
Friedenthal versuchte es auf neue Weise, seine Besucherin von ihren lästigen Ideen abzubringen. «Haben Sie sich eigentlich schon einmal vorgestellt, welche grausame Bestie dieser augenblicklich ruhige Halbkranke sein kann?» fragte er.
«Das kümmert uns jetzt nicht!» gab Clarisse zur Antwort, diesen Versuch kurz abschneidend. «Sie fragen auch bei einer Lungenentzündung nicht, ob Sie einem guten Menschen zum Weiterleben verhelfen! Jetzt haben Sie nur zu verhindern, daß Sie nicht selbst Gehilfe eines Mordes werden!»
Friedenthal hob wehmütig die Hände. «Sie sind ja verrückt!» sagte er betrübt und unhöflich.
«Man muß den Mut dazu haben, wenn die Welt wieder recht werden soll! Es muß von Zeit zu Zeit Menschen geben, die nicht mitlügen!» versicherte Clarisse lebhaft.
Er hielt es für einen geistvollen Scherz, den er in der Eile nicht ganz verstanden habe. Diese kleine Person hatte von Anfang an Eindruck auf ihn gemacht, zumal da er, geblendet durch General von Stumm, ihre gesellschaftliche Stellung überschätzte; und einen etwas verwirrten Eindruck machen ja heutzutage viele junge Menschen. Er fand, daß sie etwas Besonderes sei, und fühlte sich von ihrem unbefangenen Eifer unruhig berührt als von etwas rücksichtslos, ja vornehm Strahlendem. Allerdings hätte er diese Ausstrahlung vielleicht nicht nur als die eines Diamanten ansehn sollen, denn sie hatte auch etwas von einem überheizten Ofen: etwas durchaus Ungemütliches, das heiß und frostig machte. Er prüfte unauffällig seine Besucherin: Stigmata erhöhter Nervosität ließen sich zweifellos an ihr wahrnehmen. Aber wer hätte heutzutage solche Stigmata nicht! Friedenthal erging es nicht anders, als es üblich ist – denn bei. unsicheren Vorstellungen von dem, was wirklich bedeutend sei, hat das Verwirrte immer die gleiche Chance, es zu übertreffen, die der Hochstapler in einer unsicheren Gesellschaft hat –, und obwohl er ein recht guter Beobachter war, hatte er sich stets wieder beruhigt, was immer auch Clarisse mit Reden anstellte. Schließlich kann man doch einen jeden Menschen als das verkleinerte Probestück eines Geisteskranken auffassen; das ist geradeso Sache der Theorie, wie man ihn einmal psychologisch betrachtet und ein andermal chemisch: und da seit Clarissens letzten Worten ein Schweigen klaffte, suchte er wieder «Kontakt» und trachtete zur gleichen Zeit abermals, sie von ihren unbequemen Forderungen abzulenken. «Haben Ihnen eigentlich die Frauen, bei denen wir gewesen sind, gefallen?» fragte er.
«Oh, wunderbar!» rief Clarisse aus. Sie stand vor ihm still, und die Härte war plötzlich aus ihrem Gesicht gewichen. «Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll» fügte sie sanft hinzu. «Dieser Saal ist wie ein ungeheures Vergrößerungsglas, über Triumph und Leiden einer Frau gehalten!»
Friedenthal lächelte befriedigt. «Nun sehen Sie es» sagte er. «Nun werden Sie es mir wohl auch zubilligen, daß mir die Anziehung, die das Kranke ausübt, nicht fremd ist. Aber ich muß Grenzen einhalten, muß trennen. Dagegen wollte ich Sie fragen, gnädige Frau, ob Sie schon einmal bedacht haben, daß auch die Liebe eine Störung des Geistes ist. Es gibt doch kaum einen Menschen, der nicht in seinem geheimsten und aufrichtigsten Liebesleben etwas verbürge, das er nur dem Mitschuldigen zeigt, Tollheiten, Schwächen: sagen wir ruhig Perversität und Wahn. In der Öffentlichkeit muß man dagegen einschreiten, im inneren Leben kann man sich aber nicht immer mit der gleichen Strenge gegen etwas Derartiges wappnen. Und Nervenärzte – schließlich ist die Heilkunde doch auch eine Kunst – werden ihren größten Erfolg dann haben, wenn sie zu dem Material, in dem sie arbeiten, in einem gewissen Sympathieverhältnis und Rapport stehen.» Er hatte die Hand seiner Besucherin ergriffen, und Clarisse überließ ihm deren
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