Gesammelte Werke
schließlich immer auf religiöse Überzeugungsfragen hinaus –»Er hatte mit seinen letzten Worten sein Lächeln dem Pfarrer zugewandt und hoffte, dem Gespräch durch diese Neckerei eine harmlose Wendung zu geben. Der Pfarrer wurde denn auch etwas rot und lächelte verlegen zurück, und Moosbrugger drückte seine volle Billigung der Theorie, daß er vor das Forum Gottes und nicht vor die Psychiatrie gehöre, durch einen unmißverständlichen Brummlaut aus. Aber plötzlich sagte Clarisse: «Vielleicht ist der Kranke hier, weil er einen andern vertritt.»
Sie sagte es so schnell und unerwartet, daß es verloren ging; einige erstaunte Blicke streiften sie, aus deren Gesicht die Farbe bis auf zwei rote Flecken gewichen war, und dann lief das Gespräch in seiner eigenen Richtung weiter.
«Doch nicht ganz!» gab Dr. Pfeiffer Friedenthal zur Antwort und legte die Karten nieder. «Wir können ja einmal deutlich darüber reden, was es bedeutet, dieses: ‹Ich rede als Arzt›, von dem unser Kollege so große Stücke hält: Man legt uns einen aus dem Leben entstandenen ‹Fall› auf die Klinik; wir vergleichen ihn mit dem, was wir wissen, und den Rest, einfach das, was wir nicht wissen, einfach unsere Unwissenheit, muß der Delinquent verantworten. Ist es so oder nicht?»
Friedenthal zuckte staatsmännisch die Achseln und schwieg.
«Es ist so» wiederholte Pfeiffer. «Trotz allen Pomps der Gerechtigkeit wie der Wissenschaft, trotz allen Haarspaltens, trotz unserer Perücken von gespaltenen Haaren, läuft das Ganze zum Schluß doch nur darauf hinaus, daß der Richter sagt: ‹Ich hätte das nicht getan›, und daß wir Psychiater hinzufügen: ‹ Unsere Geisteskranken hätten sich auch nicht so benommen!› Aber darunter, daß wir mit unseren Begriffen nicht besser in Ordnung sind, darf nicht die menschliche Gesellschaft zu Schaden kommen. Ob der Wille eines einzelnen Menschen frei oder unfrei ist, der Wille der Gesellschaft ist in dem, was sie als gut und bös behandelt, frei. Und ich für meine Person wünsche nicht im Sinn meiner Privatgefühle, sondern im Sinn der Gesellschaft gut zu sein!» Er zündete seine ausgegangene Zigarre von neuem an und strich sich die Barthaare vom feucht gewordenen Mund.
Auch Moosbrugger strich seinen Schnurrbart und klopfte mit dem Rand seines zusammengefalteten Kartenpakets rhythmisch auf die Tischplatte.
«Also, wollen wir weiterspielen oder nicht?» fragte der Assistent geduldig.
«Natürlich wollen wir weiterspielen» entgegnete Pfeiffer und nahm seine Karten auf. Sein Auge begegnete dem Moosbruggers. «Moosbrugger und ich sind übrigens der gleichen Meinung» fuhr er fort, mit sorgenvoller Miene sein Blatt betrachtend. «Wie war es, Moosbrugger? Der Herr Rat bei Gericht hat Sie doch verschiedentlich gefragt, warum Sie sich Sonntagskleider angezogen haben und ins Wirtshaus gegangen sind –»
«Und rasieren lassen» verbesserte Moosbrugger; Moosbrugger konnte jederzeit darüber sprechen wie über eine Staatshandlung.
«In Ruhe rasieren lassen» wiederholte Pfeiffer. «Er hätte das nicht getan! hat er Ihnen vorgeworfen. Na also.» Er wandte sich an alle. «Ganz das gleiche tun wir, wenn wir sagen: unsre Kranken hätten das nicht getan. Beweist man viel auf diese Art?» Seine Worte waren diesmal brummend und gemütlich und nur ein Echo seiner vorangegangenen leidenschaftlicheren Verwahrung, denn das Spiel hatte nun wieder angefangen, in der Runde zu kreisen.
Auf Moosbruggers Gesicht war noch lange ein gönnerhaftes Lächeln wahrzunehmen, das sich erst im Spieleifer auflöste, wie die Falten in einem steifen Stoff mit der Dauer des Gebrauchs weichen. So hatte Clarisse nicht ganz unrecht, wenn sie den Kampf mehrerer Teufel um eine Seele zu sehen glaubte, aber die dabei herrschende Gemütlichkeit täuschte sie, und besonders wurde sie doch durch die Art verwirrt, in der sich Moosbrugger benahm. Er mochte anscheinend den jüngeren Arzt, der ihm helfen wollte, nicht gut leiden, duldete nur ungern seine Bemühungen und wurde unruhig, wenn er sie spürte. Vielleicht handelte er dabei nicht anders als jeder einfache Mensch, der es als frech empfindet, wenn sich einer zu angelegentlich um ihn bekümmert, jedoch war er jedesmal entzückt, wenn Dr. Pfeiffer sprach. Vermutlich war auch Entzückung nicht ganz das, was er in diesem Fall äußerte, denn ein solcher Zustand kam an Moosbruggers auf Würde und Haltung abgetönter Gestalt nicht vor, und viel von dem, was die Ärzte untereinander
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