Gesammelte Werke
zuströmte; sie hatte das Empfinden, mit einem Schwarm wundervoller Liebesvögel höher auffliegen zu können, als es alle Erregungen des Lebens und der Kunst gewähren. Ihr Begleiter kam mit ihr nur langsam vorwärts, denn allerhand demütig Verliebte näherten sich ihm oder strichen ihm in den Weg mit einer Stärke der erotischen Sanftheit, wie sie Clarisse noch nie erlebt hatte. Friedenthal richtete begütigende oder strenge Worte an diese und schob sie mit weichen Bewegungen von sich, und in den Betten lagen währenddessen andere Frauen in ihren weißen Jacken und hatten das Haar dunkel über die Polster gebreitet, Frauen, die mit Bauch und Beinen unter ihrer dünnen Decke das Drama der Liebe aufführten. Sündengestalten. Mit einem Mitspieler gepaart, der unsichtbar blieb, aber fühlbar da war, gegen den sie in übertriebener Abwehr die Arme stemmten, der übertrieben die Wogen ihres Busens aufwühlte, dem sich der Mund mit übermenschlicher Anstrengung entzog und der Bauch mit übermenschlichem Verlangen entgegen wölbte, während die Augen inmitten dieses obszönen Schauspiels unschuldig mit der bezaubernden leblosen Schönheit großer dunkler Blumen leuchteten.
Clarisse war noch tief verwirrt von diesem Blumenbeet der Liebe und der Leiden, von seinem krankhaften und doch berauschenden Duft, seinem Schimmer, dem Hindurchgleiten und Nicht-Stehenbleiben-dürfen, als sie schon in Friedenthals Zimmer saß und von ihm mit einem unermüdlichen Lächeln betrachtet wurde. Aus ihrer fast räumlich tiefen Abwesenheit zurückkehrend und sich sammelnd, klammerte sie sich an etwas, das sie mit rauher, fast mechanischer Stimme vorbrachte: «Erklären Sie ihn für unzurechnungsfähig!»
Friedenthal sah sie erstaunt an. «Meine Gnädige,» fragte er scherzhaft betont «welches Interesse haben Sie daran?»
Clarisse erschrak, weil ihr keine Antwort einfiel. Aber da ihr nichts einfiel, hatte sie plötzlich schlicht gesagt: «Weil er nichts dafürkann!»
Dr. Friedenthal musterte sie jetzt schärfer: «Woher wissen Sie das so sicher?»
Clarisse hielt seinem Blick kraftvoll stand und antwortete hochmütig, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihn einer solchen Mitteilung würdigen dürfe: «Er ist ja doch nur hier, weil er einen anderen vertritt!» Sie zuckte belästigt die Schultern, sprang auf und sah zum Fenster hinaus. Als sie aber nach einer kleinen Weile keine Wirkung davon verspürte, drehte sie sich wieder um und gab klein bei. «Sie können mich nicht verstehn: er erinnert mich an jemand!» bemerkte sie, die Wahrheit halb abschwächend. Sie wollte nicht zu viel sagen und hielt sich zurück.
«Aber das ist doch kein Grund für die Wissenschaft!?» erwiderte Friedenthal gedehnt.
«Ich habe gedacht, Sie werden es tun, wenn ich Sie darum bitte!» sagte sie jetzt einfach.
«Sie nehmen das zu leicht» entgegnete der Arzt vorwurfsvoll. Er lehnte sich faustisch in seinen Sessel zurück und fuhr mit einem Blick auf sein Studio fort: «Haben Sie sich überhaupt überlegt, ob Sie dem Mann etwas Gutes erweisen, wenn Sie ihm statt einer Bestrafung die Internierung wünschen?! Der Aufenthalt in diesen Mauern ist kein Vergnügen ...!» Er schüttelte schwermütig das Haupt.
Seine Besucherin erwiderte klar: «Zuerst muß der Henker weg von ihm!»
«Sehen Sie,» meinte Friedenthal «meiner Ansicht nach ist Moosbrugger ja wohl Epileptiker. Er weist aber auch Züge von Paraphrenia systematica und vielleicht von Dementia paranoides auf. Er ist eben in jeder Hinsicht ein Grenzfall. Seine Anfälle, bei denen qualvoll beängstigende Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen gewiß eine Rolle spielen, können Minuten bis Wochen dauern, aber sie übergehen oft unmerklich in volle Geistesklarheit, wie sie auch ohne feste Grenze aus ihr zu entstehen vermögen, und außerdem ist selbst im paroxysmalen Stadium das Bewußtsein nie ganz aufgehoben, sondern nur in verschiedenen Graden vermindert. Man könnte also wohl etwas für ihn tun, aber der Fall ist durchaus nicht so, daß man als Arzt seine Verantwortlichkeit ausschließen müßte! »
«Also werden Sie etwas für ihn tun?!» drängte Clarisse.
Friedenthal lächelte. «Ich weiß es noch nicht.»
«Sie müssen!»
«Sie sind sonderbar» erwiderte Friedenthal gedehnt. «Aber – man könnte schwach werden.»
«Sie sind ja keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß der Mann krank ist!» versicherte die junge Frau mit Nachdruck.
«Das natürlich nicht. Aber ich habe doch gar nicht darüber
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