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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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äußerste Fingerglieder, die sie zwischen seinen Fingern so weich und ohnmächtig liegen fühlte, als wären sie von ihr gefallen wie die Blätter, die eine Blüte verliert. Sie war plötzlich völlig Frau, voll dieser zarten Willkür gegenüber den Bitten eines Mannes, und was sie am Morgen erlebt hatte, war vergessen. Ein lautloser Seufzer öffnete ihre Lippen. Es kam ihr vor, daß sie noch nie oder zuletzt vor ungeheuer langer Zeit so empfunden hätte, und offenbar kam Friedenthal, der ihr selbst keineswegs ungewöhnlich gefiel, in diesem Augenblick etwas von dem Zauber seines Reichs zugute. Aber sie nahm sich zusammen und fragte hart: «Wozu haben Sie sich also entschlossen?»
    «Ich muß jetzt meinen Rundgang antreten» antwortete der Arzt «und möchte Sie gerne wiedersehn; aber nicht hier: können wir uns nicht irgendwo treffen?»
    «Vielleicht!» entgegnete Clarisse. «Wenn Sie meine Bitte erfüllt haben!»
    Ihre Lippen verschmälerten sich, aus ihrer Haut wich das Blut, und die Wangen sahen dadurch rund wie zwei kleine Lederbälle aus, in ihren Augen war zu viel Druck. Friedenthal fühlte sich plötzlich ausgenützt. Es ist merkwürdig, aber wenn ein Mensch in einem andern bloß ein Mittel zu einem Zweck sieht, gewinnt er desto leichter das zugangslose Aussehen eines Geisteskranken, je natürlicher es ihm erscheint, daß man ihn berücksichtigen müsse. «Wir sehen hier stündlich Seelenleiden, aber wir müssen uns innerhalb unserer Grenzen halten!» wehrte Friedenthal ab. Er wurde behutsam.
    Clarisse sagte: «Gut, Sie wollen nicht Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag.» Sie stand klein vor ihm, die Beine gespreizt, die Hände hinter sich, und sah ihn mit einem verlegen-spöttischen, drängenden Lächeln an: «Ich werde als Schwester in die Klinik eintreten!»
    Der Arzt erhob sich und bat sie, mit ihrem Bruder darüber zu sprechen, der ihr erklären werde, wieviel dazu nötige Bedingungen sie nicht erfülle. Bei seinen Worten wich der hineingepreßte Spott aus ihren Augen, und sie füllten sich mit Tränen. «Dann wünsche ich,» sagte sie, beinahe tonlos vor Aufregung «daß ich als Kranke aufgenommen werde! Ich habe eine Aufgabe!» Weil sie sich fürchtete, ihre Sache zu verderben, wenn sie den Arzt ansehe, blickte sie zur Seite, und ein wenig zur Höhe, und vielleicht irrten ihre Augen auch etwas umher. Ein Schauer erhitzte ihre Haut, die jetzt rot aufblühte. Sie sah nun schön und zärtlichkeitsbedürftig aus, aber es war zu spät; der Ärger über ihre Zudringlichkeit hatte den Arzt ernüchtert und zur Zurückhaltung bestimmt. Er fragte sie nicht einmal mehr aus, denn es erschien ihm ebenso mit Rücksicht auf den General und Ulrich, die sie hergebracht hatten, wie darauf, daß er selbst ihr seither nahezu unzulässige Begünstigungen eingeräumt habe, als das klügste, nicht zuviel von ihr zu wissen. Und nur aus alter ärztlicher Gewohnheit wurde seine Sprache von diesem Augenblick an noch sanfter und nachdrücklicher, während er Clarisse sein Bedauern darüber ausdrückte, ihren zweiten Wunsch erst recht nicht erfüllen zu können, und ihr riet, sich auch mit diesem Wunsch ihrem Bruder anzuvertraun. Er teilte ihr sogar mit, daß er, ehe das geschehen sei, eine Fortsetzung ihrer Besuche der Klinik nicht zulassen könne, so sehr er sich damit selbst beraube.
    Clarisse setzte seinen Reden eigentlich gar keinen Widerstand entgegen. Sie hatte Friedenthal ja schon Schlimmeres zugetraut. «Er ist ein tadelloser medizinischer Bürokrat» sagte sie sich, das erleichterte den Abschied; sie reichte dem Arzt unbefangen die Hand, und ihre Augen lachten verschmitzt. Sie war ganz und gar nicht niedergeschlagen und überlegte sich, die Treppe hinabsteigend, schon andere Möglichkeiten.
    [◁]
94
    Die Reise ins Paradies
    [Früher Entwurf]
    Unten lag ein schmaler Küstenstreifen mit etwas Sand. Boote, heraufgezogen, von oben gesehn wie blaue und grüne Siegellackflecke. Wenn man näher zusah, Ölfässer, Netze, Männer mit hochgestreiften Hosen und braunen Beinen; Fisch- und Knoblauchgeruch; geflickte, wacklige Häuschen. So fern und klein war diese Betriebsamkeit am warmen Sand wie ein Käferleben. Zu beiden Seiten wurde sie von Felsen eingerahmt wie von Steinblöcken, an denen die Bucht hing, und weiter hin stürzte, so weit das Auge sah, bloß die Steilküste mit krausen Einzelheiten in die südliche See; wenn man vorsichtig hinabkletterte, konnte man über abgestürzte Felstrümmer ein Stück ins Meer hinaus

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