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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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die persönliche Liebe erfährt. Man muß trotz der Brunst dieses Zeitalters den Mut zur Inbrunst, zum In-Brennen haben! Die Tugend macht die Handlung tugendhaft; nicht machen Handlungen die Tugend! Versuche es! Das Jenseitige offenbart sich sprunghaft, und wir werden nicht mit einem Sprung in die Region des unbedingten Lebens entrückt werden. Aber Augenblicke werden kommen, wo wir menschenferne Menschen in menschenfernen Augenblicken der Gnade sein werden. Wirf nicht Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit in einen Topf des Gewesenen! Habe den Mut, Göttin zu sein! Das ist deutsch! –»
    «Nun?» fragte Fischel.
    Ulrich hatte einen roten Kopf bekommen. Er fand diesen Brief lächerlich und ergreifend. Hatten diese jungen Leute gar keine Scheu vor dem Übertriebenen, Unmöglichen, vor dem Wort, das sich nicht einlösen läßt? Worte spannen da immer neue Worte an, und ein Kern von Wahrheit überzog sich mit ihrem sonderbaren Gespinst. «Also, so ist jetzt Gerda?» dachte er. Aber in diesem Gedanken dachte er einen unausgesprochenen zweiten, eine Beschämung; ungefähr sagte sie: «Bist du nicht zu wenig übertrieben und unmöglich?»
    «Nun?» wiederholte Fischel.
    «Sind alle Briefe so?» fragte Ulrich und gab sie ihm zurück.
    «Was weiß ich, welchen Sie gelesen haben!» antwortete Fischel. «Alle sind so!»
    «Dann sind sie sehr schön» sagte Ulrich.
    «Das habe ich mir gedacht!» platzte Fischel heraus. «Darum habe ich sie Ihnen wohl gezeigt! Meine Frau hat diesen Fund gemacht. Von mir erwartet aber niemand in solchen Seelenfragen einen klugen Rat. Also schön! Sagen Sie das meiner Frau!»
    «Ich möchte lieber mit Gerda selbst darüber sprechen; vieles in dem Brief ist natürlich sehr unklug.»
    «Unklug? Gering gesagt! Aber sprechen Sie! Und sagen Sie Gerda, daß ich kein Wort von diesem Jargon verstehen kann, daß ich aber bereit wäre, 5000 Mark – nein! sagen Sie lieber nichts! Sagen Sie nur, daß ich sie trotzdem liebe und bereit sein werde, ihr zu verzeihen!»
    Das Telefon rief Fischel wieder an ein Geschäft. Er, der sein Leben lang nur ein solider Angestellter gewesen war, hatte seit einiger Zeit begonnen, auf eigene Rechnung an der Börse zu operieren; nur mit kleinen Beträgen einstweilen, den geringen Ersparnissen, die er besaß, und einigen Papieren seiner Gattin Klementine. Er durfte mit ihr nicht darüber reden, aber konnte mit dem Erfolg recht zufrieden sein; es war geradezu eine Erholung von den entmutigenden Verhältnissen zuhause.
    [◁]

101
    Ulrich hört Musik
    Das nächstemal traf Ulrich mit Clarisse bei Freunden von ihr in einem Maleratelier zusammen, wo sich ein Kreis von Menschen versammelt hatte und Musik machte. Clarisse war unauffällig in dieser Umgebung, die Rolle des Sonderlings fiel darin eher Ulrich zu. Er war unwillig gekommen und empfand Widerstreben zwischen lauter Menschen, die verzückt und verbogen lauschten. Diese Übergänge von Lieblich, Leise, Sanft zu Düster, Heldisch und Brausend, welche die Musik binnen einer Viertelstunde ein paarmal vollzieht, – Musiker bemerken das ja nicht, weil für sie der Vorgang gleichbedeutend ist mit Musik und also mit etwas ganz und gar Ausgezeichnetem! – aber Ulrich, der in diesem Augenblick ganz und gar nicht von dem Vorurteil, daß es Musik geben müsse, befangen war, erschienen sie als so schlecht begründete und unvermittelte Vorgänge wie das Treiben einer betrunkenen Gesellschaft, die alle Augenblicke zwischen Rührseligkeit und Prügeln abwechselt. Er wollte sich zwar keine Vorstellung von der Seele eines großen Musikers machen und darüber urteilen, aber was gewöhnlich schon für große Musik gilt, kam ihm noch beiweitem nicht anders wie ein Kasten vor, der alle Inhalte der Seele einschließt und außen sehr schön geschnitzt ist, aus dem man aber alle Laden herausgezogen hat, so daß innen der ganze Inhalt durcheinander liegt. Er konnte gewöhnlich nicht begreifen, daß Musik eine Verschmelzung von Seele und Form sei, weil er zu deutlich sah, daß die Seele der Musik, abgesehen von der ganz seltenen reinen Musik, nichts ist als die ausgeborgte und verrückt gemachte Seele von Hinz und Kunz.
    Dennoch hatte er den Kopf wie die anderen in beide Hände gestützt; er wußte bloß nicht, ob es geschah, weil er an Walter dachte, oder um sich ein wenig die Ohren zuzuhalten. In Wahrheit hielt er weder die Ohren ganz zu, noch dachte er nur an Walter. Er wollte bloß allein sein. Er dachte nicht oft über andere Menschen nach;

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