Gesammelte Werke
Herr züchtigt.»
Wieder wurde Fischel unterbrochen. Diesesmal durch lange Mitteilungen. Ulrich fiel auf, daß er sich solche Geschäfte in die Wohnung bestellt habe, statt ins Büro. Fischel gab drei Aufträge zu kaufen und einen auf Verkauf. Dazwischen hatte er Zeit an seine Frau zu denken. – Wenn ich nun ihr Geld bieten möchte, damit sie sich von mir scheiden lasse, fragte er sich, würde es Klementine tun? – Eine innere Gewißheit erwiderte ihm: «Nein!»; Leo Fischel verdoppelte in Gedanken die Summe. «Gerade nicht!» sagte die innere Stimme. Fischel vervierfachte. «Aus Prinzip nicht» fiel ihm ein. Da steigerte er in einem Zuge, atemlos die Summe über jede menschliche Widerstandskraft und Leistungsfähigkeit hinaus und hielt ärgerlich inne. Er mußte seinen Geist hurtig auf kleinere Vermögen umstellen, das zog sich förmlich in seinem Kopf zusammen, wie man bei schnellem Lichtwechsel die Pupillen sich einziehen fühlt; aber er war nicht einen Augenblick von seinen Geschäften ab gewesen und machte keinen Fehler.
«Aber jetzt sagen Sie mir endlich einmal,» bat Ulrich, der schon ungeduldig geworden war «was das für Briefe sind, die Sie mir zeigen wollten. Das scheinen Liebesbriefe zu sein. Haben Sie Gerda bei Liebesbriefen erwischt?»
«Diese Briefe habe ich Ihnen zeigen wollen. Sie sollen sie lesen. Ich möchte jetzt bloß noch wissen, was Sie dazu sagen.» Fischel reichte Ulrich das ganze Paket und setzte sich zurecht, um, mit irgendwelchen anderen Gedanken inzwischen beschäftigt, durch seinen Kneifer in die Luft zu schauen.
Ulrich blickte in die Briefe; dann nahm er einen heraus und las ihn langsam durch. Direktor Fischel fragte: «Sagen Sie, Doktor, Sie haben doch einmal diese Sängerin gekannt, Leontine oder Leona, die wie die selige Kaiserin Elisabeth aussieht; Gott soll mich strafen, dieses Weib hat wirklich einen Löwenappetit!»
Ulrich sah stirnrunzelnd auf; der Brief hatte ihm gefallen, und die Unterbrechung störte ihn.
«Nun, Sie brauchen nicht zu antworten,» begütigte Fischel «ich habe nur gefragt. Sie brauchen sich nicht zu schämen. Es ist eine königliche Person. Ich habe sie vor einiger Zeit durch einen Bekannten kennengelernt; wir haben dabei festgestellt, daß Sie befreundet waren. Sie ißt viel. Soll sie essen! Wer ißt nicht gerne?!» Fischel lachte.
Ulrich senkte den Blick wieder in den Brief, ohne zu antworten. Fischel blickte wieder träumend ins Firmament des Zimmers.
Der Brief begann: «Geliebter Mensch! Menschliche Göttin! Wir sind verurteilt, in einem erloschenen Jahrhundert zu leben. Niemand hat den Mut, an die Wirklichkeit des Mythos zu glauben. Du mußt dir inne machen, daß auch du davon betroffen wirst. Du hast nicht den Mut zu deiner Natur als Göttin. Menschenfurcht hält dich zurück. Du hast recht, wenn du die gewöhnliche Menschenbrunst für gemein hältst; ja schlimmer als das, für einen lächerlichen Rückfall aus dem Leben von uns Zukünftigen in bloße Atavismen! Und noch einmal hast du recht, wenn du sagst, daß Liebe zu einem Menschen, Tier oder Ding schon der Anfang seiner Besitznahme sei! Und darüber, daß Besitzen der Anfang von Entgeistigen ist, brauchen wir nicht zu reden! Aber dennoch müßtest du etwas scheiden: Gefühltwerden, vielleicht sogar schon Empfundenwerden heißt Meinsein. Ich fühle nur, was mein ist; ich höre nicht, was nicht für mich bestimmt ist! Wäre dem nicht so, so würden wir Intellektualisten sein. Das ist vielleicht eine unentrinnbare Tragik, daß wir mit Augen, Ohren, Atem und Gedanken besitzen müssen, wenn wir lieben! Aber bedenke: Ich fühle, daß ich nicht bin, solange ich nur ich selbst, Ichselbst bin. In den Dingen außer mir entdecke ich mich erst. Auch das ist eine Wahrheit. Ich liebe eine Blume, einen Menschen, weil ich ohne sie nichts war. Das Große am Erlebnis des Mein ist, sich ganz dahinschmelzen zu fühlen, wie ein Häuflein Schnee unter den Strahlen der Sonne; emporzuschweben wie ein leichter Hauch, der sich auflöst! Das schönste am Mein ist die letzte Ausrottung des Besitzes meiner selbst! Das ist der reine Sinn des Mein, daß ich nichts besitze, sondern von der ganzen Welt besessen werde. Alle Bäche fließen von den Höhen in die Täler, und auch du, meine Seele, wirst nicht eher Mein sein, als bis du ein Tropfen im Meer der Welt geworden bist, ganz ein Glied in der Weltbrüderschaft und Weltgemeinschaft! Dieses Mysterium hat nichts mehr gemein mit der nichtssagenden Überschätzung, welche
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