Gesammelte Werke
Entsetzen darüber. Ulrich hatte sich halb aufgerichtet; alles war so schlüpfrig (von den Gesichtern bis zu den Worten), daß das Ineinandergleiten keinen Laut mehr von sich gab.
Clarisse riß ihren Hut vom Nagel, stürmte fort. Er mit ihr. Wortlos. Wohin? Diese Frage war dabei lächerlich einsam in seinem Gehirn, das von dem Sturm leergefegt worden war.
Clarisse raste über Wege, Wiesen, durch Hecken hindurch, durch den Wald. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die sanft gebrochen werden, sondern wurde nach dem Fall böse und hart. Sie befanden sich schließlich in dem an den Wald anschließenden Tiergarten an einer ganz abgelegenen Stelle. Dort stand ein kleines Rokokolusthaus. Leer. Dort stellte sie sich ihm noch einmal. Diesmal mit vielen Worten und Geständnissen. Gehetzt von der Ungeduld der Begierde und der Angst, daß Menschen vorbeikommen könnten. Es war entsetzlich. Diesmal wurde Ulrich ganz kalt und hart von Reue. Er ließ zurück. Er kümmerte sich nicht, wie sie nach Hause käme, sondern raste davon.
Als Ulrich spät in die Wohnung zurückkehrte, fand er Walter vor. Clarisse war noch böse und betonte sanftes eheliches Zueinanderstimmen. Aber mit einem einzigen schmollenden Blick ließ sie Ulrich fühlen, daß sie doch zusammengehörten. Erst hinterdrein fiel ihm auf, wie sonderbar der Ausdruck ihrer Augen zweimal an diesem Nachmittag gewesen war: rasend und verrückt.
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104
Ulrich bereitet die Entführung Moosbruggers vor
[Aus einem frühen Entwurf]
Ulrich hatte in der Erregung eingewilligt, Moosbrugger zu befreien. Nun gab er diesem Einfall nach, weil es bereits so weit gekommen war. Er glaubte nicht daran und traf die Vorbereitungen, überzeugt, daß die Durchführung doch nicht möglich sein werde.
Er traf Moosbrugger breit zwischen den Arglistigen thronend. Es war etwas Heroisches, der vergebliche Kampf eines Riesen, um diesen Menschen. Er schien die Bewunderung, die er scheinbar fand und naiv lächerlich genoß, doch auch durch irgendeine Eigenschaft zu verdienen. In der ärgsten Entstellung durch Wahnsinn ist er noch ein Ich, welches um Haltung kämpft. Wie ein Heldenlied war er, inmitten einer Zeit, welche schon ganz andere Lieder schafft, aber durch ihre gewohnheitsmäßige Bewunderung noch immer das alte konserviert. Wehrlose bewunderte Gewalt, einer Keule gleich zwischen den Pfeilen des Geistes. Man konnte über diesen Menschen lachen, aber fühlen, daß seine Komik erschütternd war. (Die Trübung dieses Geistes hing mit der Trübung der Zeit zusammen.)
«Haben Sie einen Freund?» fragte Ulrich in einem unbewachten Augenblick. «Ich meine, Moosbrugger, haben Sie niemand ...»
Moosbrugger meint, er hätte wohl einen aber ...
–––––––– Es war jener Automatismus, der ihn trug, welcher alle gewagten Taten begleitet. Er war eigentlich gar nicht überrascht, als er in eine Wohnung trat, welche wie vierzig andere in diesem Vorstadthaus aussah, und eine junge Frau in der Küche wirtschaftend antraf, welche den vierzig anderen Hausfrauen gleichen mußte. Auch das Mißtrauen, mit dem er empfangen wurde, wich in nichts von dem Mißtrauen ab, das man oft in diesen Kreisen findet. Er mußte sogleich beim Eintreten etwas sprechen und wurde durch diese europäisch allgemeinen Höflichkeiten, die er vorbrachte, sogleich in eine ganz unpersönliche Beziehung gebracht. Von Verbrechen war in diesem Umkreis kein Hauch. Es war eine derbe junge Frau, und ihr Busen regte sich unter der Bluse wie ein Kaninchen unter einem Tuch.
Ulrich hatte Glück und traf Karl Biziste gleich beim ersten Versuch. Wieder trug ihn ein automatisches Spiel seiner Glieder und Gedanken hin; diesmal aber gab Ulrich acht und verfolgte mit Neugierde, was mehr mit ihm geschah, als daß er es tat. Sein Gefühl war dabei das gleiche wie damals, als er verhaftet worden war. Von dem Augenblick an, wo Clarissens Interesse ihn vorsichtig wie die Spitze eines Fadens zu berühren begonnen hatte, bis jetzt, wo das Geschehen sich schon zu einem dicken Strick drehte, waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen, wo eins das andere gab, mit einer Notwendigkeit, die ihn nur mitnahm. Es erschien ihm unsagbar sonderbar, daß der Lebensweg der meisten Menschen dieser der Dinge ist, der ihn so befremdete, wogegen es für andere Menschen ganz natürlich ist, sich von den Gelegenheiten tragen zu lassen und so schließlich zu einer festen Existenz emporgehoben zu werden. Ulrich fühlte auch, daß er bald nicht mehr werde umkehren
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