Gesammelte Werke
ihr nicht zu reden; sie behauptet, diese Vorstellungen nicht mehr loswerden zu können.»
Clarisse sah Ulrich an, als ob sie ihn nicht gleich erkennen würde. Es schien ihm aber, daß sie nicht nur genau gewußt hatte, daß er kommen müsse, sondern es darauf angelegt hatte. Sie hatte ihn nicht nur im gleichen Augenblick des Eintretens erkannt, sondern ihr ganzer Ausdruck war noch tief ausgehöhlt von einer Erwartung, in die seine Anwesenheit jetzt wie eine Kugel in eine Schale paßte. Und doch schien etwas sie zu behindern, sein vor ihr Stehen anzuerkennen. Er ärgerte sich über diese Affektation.
Endlich lächelte Clarisse und reichte ihm die Hand. So gibt ein kranker Hund die Pfote. Als hätte sie etwas angestellt.
«Walter übertreibt» sagte sie. «Aber ich weiß nicht, was mir ist. Ich habe zuerst alles ganz ruhig wie immer gelesen –» Sie begann tief und aufgeregt zu atmen, in ihre Augen kam etwas Hilfloses. Walter trat zu ihr, legte den Arm um ihre Schulter und zog sie beruhigend an sich. Sie machte sich mit einer Gebärde des Ekels frei. «Aber habt ihr das niemals bemerkt?» stieß sie nun heftig hervor. «Es sind fürchterliche Unglücke geschehn. Auf jeder Seite findest du Armut und Krankheit. Ich habe Walter gebeten, auf die Redaktionen zu gehn, aber er will nicht!»
Ulrich wollte eine Antwort geben, aber er begriff blitzschnell, daß das falsch war. Also sagte er rücksichtslos und gerade: «Was geht alles das dich an?!»
Der grobe Angriff brachte Clarissens Aufregung zum Stehn.
«Kannst du helfen?!» fuhr Ulrich fort. «Wie willst du es machen?»
Clarisse sah ihn mit Augen an, deren Pupillen sich unwillig und eingeschüchtert sträubten.
«Aber verstehst du nicht,» sagte sie «daß du das täglich liest, ohne etwas zu tun. Jeder Morgen, wenn du die Zeitung öffnest, legt dir einen Berg von Leid auf, und du spürst nicht mehr davon, als ob sich dir eine Fliege auf die Stirn setzen würde? Werde ich verrückt oder seid ihr Gewohnheitsmenschen?» Sie riß heftig die Zeitung an sich, die übel zusammengefaltet auf einem Tischchen lag, und begann vorzulesen: «‹Der Tourist, welcher, wie wir gemeldet haben, Sonntag auf dem Hochtor abgestürzt ist, ist der einunddreißigjährige Privatbeamte Max Prevenhuber.› Kannst du das nicht verstehn? Jedes Wort ist voll Verantwortung. Sonntag. Abgestürzt. Privatbeamter: wäre er an einem anderen Tag abgestürzt? Wäre er Sonntag ins Gebirge gefahren, wenn er nicht Beamter wäre? Ja vielleicht, wenn er nicht Max hieße? Und warum hat ihn niemand geschützt? Warum hat niemand die tausend anderen geschützt, welche jeden Tag zugrundegehn, weil wir nicht an sie denken?»
«Du hast dich überarbeitet, Clarisse» sagte Walter verzweifelt; «ich schicke dir Doktor X., er soll es dir verbieten.»
Clarisse sah ihn nur mit einem hochmütigen Blick an. «Riecht ihr denn nicht die Leichen?» fragte sie ruhig. «Ich rieche sie immerzu!» In diesem Satz, den sie sehr einfach aussprach, lag wirkliche Gegenwart und es ging von ihm eine stumme Erschütterung aus. Die beiden Männer standen unschlüssig da. Endlich antwortete Ulrich sanft: «Irgendetwas hat dich wirklich überreizt, Clarisse. Ich sage nicht, daß es falsch ist, was du sagst. Aber ein gesunder Mensch sperrt sich dagegen.»
Clarisse hob traurig ein wenig die Hände. «Wann wird wieder ein Erlöser kommen, der das Ungerade gerade macht und diese grenzenlose Verwirrung erhellt?»
«Niemals» erwiderte Ulrich. «Es ist freilich viel schwerer heute» sagte Clarisse fast bittend. Wieder hatte er das unbestimmte Gefühl: sie meint mit all dem dich. Er sprach breit und hart davon, daß das Bedürfnis nach einer einfachen Lösung der verwirrten Zeit eine Schwäche sei, eine lächerliche Einbildung. (Vergleiche: Partial- und Totallösungen.)
Walter konnte kaum noch an sich halten, aber er schwieg dazu, denn es war zu sehn, wie Clarissens Melancholie sich etwas erleichterte, während ihr Blick an Ulrich hing. Seine feste Gleichgültigkeit schüchterte sie ein, und was sich nicht ohne einige Selbstgefälligkeit und Komödie breit gemacht hatte, zog sich in ihr wieder ein; in einen Punkt hinter den Augen, fühlte sie. Aber der Punkt blieb da.
Ulrich wußte, als er fortging, daß sie nicht nachgegeben hatte. Walter begleitete ihn ein Stück Wegs. «Sie war schon einmal so» sagte er «auf unserer Hochzeitsreise.» Ulrich erinnerte sich. Das war in England, und sie lief bedrückt und begeistert von dem fremden Land
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