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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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erstemal.
    Aber Ulrich sagte: «Sie wollen sich jetzt nicht von mir helfen lassen, Gerda, das sehe ich; Sie sind noch viel zu stolz auf Ihr neues Abenteuer. Ich kann nur sagen, daß ich für Sie einen bösen Ausgang fürchte. Prägen Sie sich, bitte, ein, daß Sie immer ohne Rücksicht über mich verfügen können, wenn Sie es brauchen sollten.» Er sagte es zögernd und überlegend, denn er hätte ja eigentlich auch etwas anderes und Liebevolleres sagen können. Gerda war aufgestanden, tastete vor dem Spiegel an ihrem Hut herum und lächelte Ulrich zu. Sie hätte ihn gerne zum Abschied geküßt, aber dann wäre es vielleicht gar nicht zum Abschied gekommen; und der Tränenstrom, der unsichtbar hinter ihren Augen rann, trug sie wie eine zart tragische Musik, die man nicht unterbrechen durfte, in das neue Leben hinaus, von dem sie sich noch sehr wenig vorstellen konnte.
    [◁]
103
    Clarisse verführt Ulrich
    [Früher Entwurf]
    Die Zugeherin war schon fort, Walter in der Mitte seiner Bürozeit, Ulrich wählte, ohne sich ganz über die Bedeutung dieser Wahl Rechenschaft zu geben, jetzt solche Stunden für seine Besuche. Dennoch geschah nichts bis zu einem Sonntag. Da hatte Walter eine Einladung bekommen, die ihn bis zum Abend in die Stadt rief, und eine halbe Stunde zuvor, nach dem Mittagbrot, war Ulrich nichtsahnend gekommen und trüber Laune, denn die Aussicht auf einen Nachmittag in Gegenwart des Freundes hatte ihn so wenig gelockt, daß er den Weg eigentlich aus Gewohnheit antrat. Als Walter sich aber sogleich zu verabschieden begann, empfand es Ulrich wie ein Signal. Auch Clarisse hatte an das Gleiche gedacht. Das wußten sie beide.
    Sie werde ihm vorspielen, sagte Clarisse. Clarisse begann. Ulrich winkte vom Fenster Walter nach, der hinaufgrüßte. Den Blick im Zimmer, beugte er sich immer weiter hinaus, dem Entschwindenden nach. Clarisse brach plötzlich ab, kam auch ans Fenster. Walter war nicht mehr zu sehn. Clarisse spielte weiter. Ulrich kehrte ihr jetzt den Rücken zu, als kümmerte es ihn nicht; im Fenster lehnend. Clarisse hörte wieder zu spielen auf, lief ins Vorzimmer. Ulrich hörte, wie sie die Kette vor die Tür legte. Als sie zurückkehrte, drehte er sich langsam um; schwieg; schwankte. Sie spielte weiter. Er ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie stieß die Hand, ohne den Kopf zu wenden, mit der Schulter weg. «Schuft!» sagte sie; spielte weiter. «Sonderbar?» dachte er «will sie Gewalt spüren?» Die Vorstellung, die sich ihm aufdrängte, daß er sie an beiden Schultern packen und vom Klavierstuhl herunterreißen solle, kam ihm so komisch vor, wie an einem unsicheren Zahn zu wackeln. Er fühlte sich dadurch beengt. Ging in die Mitte des Zimmers hinein. Spannte das Gehör und suchte nach Anlässen. Bevor ihm aber noch irgendetwas einfiel, sagte sein Mund: «Clarisse!» Das hatte sich gepackt, gurgelnd aus dem Hals gelöst, war wie ein fremdes Geschöpf aus seinem Hals gewachsen. Clarisse stand folgsam auf und war bei ihm. Sie hatte die Augen weit offen. In diesem Augenblick begriff er erst, daß Clarisse künstlich, vielleicht ohne es zu wissen, die Aufregung einer ungeheuren Opferhandlung hervorzurufen suchte. Da Clarisse neben ihm stand, mußte im nächsten Augenblick die Entscheidung fallen, aber die ganze Gewalt dieser Hemmungen bemächtigte sich Ulrichs; seine Beine trugen ihn nicht mehr, er brachte kein Wort hervor und warf sich ins Sofa.
    Im gleichen Augenblick warf sich Clarisse auf seinen Schoß. Ihre Armeidechsen schlangen sich um seinen Kopf und Hals. Sie schien an ihren Armen zu zerren, ohne sie aber aus der Umschlingung lösen zu können. Heiße Luft fuhr aus ihrem Mund und brannte ihm unverständliche Worte ins Gesicht. Sie hatte Tränen in den Augen. Da zerbrach alles, was ihn sonst machte[?]. Auch er stieß etwas hervor, das sinnlos war, aber vor den Augen der beiden schwankten die Adern wie ein Gitter, ihre Seelen gingen wie Stiere aufeinander los, und dieser Aufruhr war von dem Gefühl einer ungeheuren moralischen Entscheidung begleitet. Nun hielten sie beide nicht mehr ihre Worte, ihr Gesicht, ihre Hände. Die Gesichter preßten sich, feucht von Tränen und Schweiß, nur noch als Fleisch aneinander; alle Worte der Liebe, die nachzuholen waren, überstürzten sich, als würde der Inhalt einer Ehe verkehrt ausgeschüttet, die lasziven, abgehärteten Worte, die erst mit der späten Vertraulichkeit kommen, zuerst, unvermittelt, anstachelnd, und doch nicht ohne

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