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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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sich den Schweiß vor Anstrengung, inmitten der Bewegung, die um sie tobte, Fuhrwerke hielten im schärfsten Lauf jäh an, weil eine alte Frau über die Straße ging und beinahe überfahren worden wäre, weil sie auf nichts achtete. Wenn Rachel zu Hause in ihrem kleinen Zimmer ankam, fühlte sie ihre Neugierde von dieser leichten Nahrung gesättigt, sie nahm ihre Wäsche vor, um sie auszubessern, oder änderte ein Kleid oder las einen Roman – denn sie hatte mit Staunen vor der Weltleitung die Einrichtung der Volksbüchereien kennengelernt –, ihre Wirtin trat ein und plauderte ehrerbietig mit ihr, denn Rachel hatte Geld, ohne zu arbeiten und ohne daß man irgendetwas von schlechtem Lebenswandel merkte, und so ein Tag war um, ehe sich Zeit fand, das geringste zu vermissen, und goß seinen Inhalt, voll bis zum Rand von Spannendem, in die Träume der Nacht aus.
    Freilich hatte Ulrich vergessen, Rachel rechtzeitig Geld zu schicken oder sie zu sich zu bestellen, und sie hatte schon anfangen müssen, die kleinen Ersparnisse aus ihrem Dienst zu verbrauchen. Aber sie machte sich keine Sorge, denn Ulrich hatte ja versprochen, sie einstweilen zu schützen, und zu ihm hinzugehen, um ihn zu erinnern, kam ihr ganz und gar unpassend vor. In allen. Märchen, die sie kannte, gab es etwas, das man nicht sagen oder nicht tun durfte; und gerade das wäre es gewesen, wenn sie zu Ulrich gegangen wäre und ihm gesagt hätte, daß sie kein Geld mehr habe. Damit soll keineswegs behauptet sein, daß sie das ausdrücklich dachte, daß ihre Lebensführung ihr märchenhaft vorkam oder daß sie überhaupt an Märchen glaubte. Im Gegenteil, so war die Wirklichkeit beschaffen, die sie nie anders kennengelernt hatte, wenn es auch noch niemals derart schön gewesen war wie jetzt. Nun gibt es Menschen, denen das erlaubt ist, und solche, denen es verboten ist; die einen sinken von Stufe zu Stufe und enden im äußersten Elend, die anderen werden reich und glücklich und hinterlassen viele Kinder. Zu welcher von beiden Gruppen Rachel gehörte, war ihr niemals gesagt worden; den beiden Menschen, die ihr den Unterschied hätten erklären können, hatte sie nie gezeigt, daß sie träume, sondern hatte fleißig gearbeitet, bis auf die zwei unbeabsichtigten Fehltritte, die so große Folgen gehabt hatten. Und eines Tages meldete ihr wirklich ihre Wirtin, daß, während sie zum Essen gegangen war, eine feine Dame nach ihr gefragt habe und angekündigt habe, daß sie nach einer Stunde wiederkehre. Rachel gab angstvoll die Beschreibung Diotimas; aber die Dame, die sie gesucht habe, sei ganz entschieden nicht groß gewesen, behauptete die Wirtin, und auch nicht stark, auch dann nicht, wenn man unter stark nicht dick meine. Die Dame, die Rachel suchte, war ganz entschieden eher klein und mager zu nennen.
    Und wirklich, die Dame war schlank, klein und kehrte schon nach einer halben Stunde wieder. Sie sagte «Liebes Fräulein» zu Rachel, nannte Ulrichs Namen und zog einen größeren, eng zusammengefalteten Betrag Geldes aus ihrem Täschchen, den sie Rachel im Auftrage ihres Freundes übergab. Dann begann sie ihr eine schwierige und aufregende Geschichte zu erzählen, und Rachel war noch nie in ihrem Leben von einer Unterhaltung so gefesselt worden. Es gebe einen Mann, erzählte die Dame, der von seinen Feinden verfolgt werde, weil er sich edelmütig für sie geopfert habe. Eigentlich nicht edelmütig; denn er mußte es tun, es war sein inneres Gesetz, jeder Mensch hat ein Tier, dem er innen ähnlich sieht, – «Sie, zum Beispiel, Fräulein» – sagte die Dame – «haben entweder eine Gazelle oder eine Schlangenkönigin, das läßt sich nicht immer auf den ersten Blick sagen.»
    Wenn das nun etwa die Köchin in der Küche bei Diotima behauptet hätte, so möchte es auf Rachel keinen oder einen ungünstigen Eindruck gemacht haben; aber es wurde von einer Frau gesagt, die in jedem Wort die Sicherheit einer gnädigen Frau ausströmte, diese Gabe des Herrschens, die jeden Zweifel als eine Achtungsverletzung erscheinen ließe; also war für Rachel das Ereignis gegeben, daß eine Gazelle oder eine Schlangenkönigin zu ihr in Beziehungen stand, die vorläufig noch zu hoch für sie waren, aber wohl in irgendeiner Weise erklärt werden konnten, denn ähnliches hört man ja manchesmal. Rachel fühlte sich von dieser Neuigkeit geladen wie eine Bonbonniere, die man im Augenblick noch nicht öffnen kann.
    Der Mann, der sich geopfert habe, fuhr die Dame fort, trage einen

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