Gesammelte Werke
nicht darauf an. Es saß bloß etwas in ihr wie ein Vogel auf einem Ast und sang.
Sie aß leicht zur Nacht und ging früh schlafen. Es war alles schon ein wenig tot für sie, keine Sinnlichkeit mehr. Trotzdem wachte sie nach kurzem Schlummer auf und wußte, er sitzt unten und wartet. Sie nahm ihre Kleider und zog sich an. Stand auf und kleidete sich an, nichts sonst; kein Gefühl, kein Gedanke, nur ein fernes Bewußtsein von Unrechtem, vielleicht auch, als sie fertig war, ein nacktes, nicht genügend geschütztes Gefühl. So kam sie hinunter. Das Zimmer war leer, Tische und Stühle hatten etwas nachtwach ungefähr Ragendes. In einer Ecke saß der Ministerialrat.
Sie hatte irgendetwas im Gespräch gesagt, vielleicht: ich fühle mich allein oben; sie wußte, in welcher Weise er es mißverstehen mußte. Nach einer Weile faßte er ihre Hand; sie stand auf. Zögerte. Dann lief sie hinaus. Sie fühlte, daß sie es wie eine dumme kleine Frau tat und es war ihr ein Reiz. Auf der Treppe hörte sie Schritte ihr folgen, die Stufen ächzten, sie dachte plötzlich irgend etwas sehr Fernes, sehr Abstraktes und ihr Körper zitterte dabei um sie wie ein Tier, das in einem Wald verfolgt wird.
Der Ministerialrat sagte dann, als er bei ihr im Zimmer saß, beiläufig dies: Nicht wahr du liebst mich? Ich bin zwar kein Künstler oder Philosoph aber ein ganzer Mensch, ich glaube, ein ganzer Mensch. Und sie antwortete: «Was ist das, ein ganzer Mensch?» «Sonderbar fragst du,» ereiferte sich der Ministerialrat, aber sie sagte: «Nicht so, ich meine, wie sonderbar, daß man einen gern hat, eben weil man ihn gern hat, seine Augen, seine Zunge, nicht die Worte sondern den Klang ...»
Da küßte sie der Ministerialrat: «So also liebst du mich?»
Und Claudine fand noch die Kraft zu entgegnen: «Nein, ich liebe, daß ich bei Ihnen bin, die Tatsache, den Zufall, daß ich bei Ihnen bin. Man könnte bei den Eskimos sitzen. In Hosen aus Fell. Und hängende Brüste haben. Und das schön finden. Gäbe es denn nicht auch andere ganze Menschen?»
Aber der Ministerialrat sagte: «Du irrst dich. Du liebst mich. Du kannst dir bloß noch nicht Rechenschaft darüber geben und gerade das ist das Zeichen der wahren Leidenschaft.»
Unwillkürlich, wie sie ihn so sich über sie breiten fühlte, zögerte etwas in ihr. Aber er bat sie: «Oh, schweig.»
Und Claudine schwieg; nur noch einmal sprach sie; während sie sich entkleideten; sie begann zwecklos zu reden, unpassend, vielleicht wertlos, bloß wie ein schmerzliches Überetwashinstreicheln war es: «... es ist wie wenn man durch einen schmalen Paß tritt; Tiere, Menschen, Blumen, alles verändert; man selbst ganz anders. Man fragt, wenn ich hier von Anbeginn gelebt hätte, wie würde ich über dies denken, wie jenes fühlen? Es ist sonderbar, daß es nur eine Linie ist, die man zu überschreiten braucht. Ich möchte Sie küssen und dann rasch wieder zurückspringen und sehen; und dann wieder zu Ihnen. Und jedesmal beim Überschreiten dieser Grenze müßte ich es genauer fühlen. Ich würde immer bleicher werden; die Menschen würden sterben, nein, einschrumpfen; und die Bäume und die Tiere. Und endlich wäre alles nur ein ganz dünner Rauch ... und dann nur eine Melodie ... durch die Luft ziehend ... über einer Leere ...»
Und noch einmal sprach sie: «Bitte, gehn Sie weg,» sprach sie, «mir ekelt.»
Aber er lächelte nur. Da sagte sie: «Bitte, geh weg.» Und er seufzte befriedigt: «Endlich, endlich, du liebe, kleine Träumerin, sagst du: Du!»
Und dann fühlte sie mit Schaudern, wie ihr Körper trotz allem sich mit Wollust füllte. Aber ihr war dabei, als ob sie an etwas dächte, das sie einmal im Frühling empfunden hatte: dieses wie für alle da sein können und doch nur wie für einen. Und ganz fern, wie Kinder von Gott sagen, er ist groß, hatte sie eine Vorstellung von ihrer Liebe.
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Die Versuchung der stillen Veronika
Irgendwo muß man zwei Stimmen hören. Vielleicht liegen sie bloß wie stumm auf den Blättern eines Tagebuchs nebeneinander und ineinander, die dunkle, tiefe, plötzlich mit einem Sprung um sich selbst gestellte Stimme der Frau, wie die Seiten es fügen, von der weichen, weiten, gedehnten Stimme des Mannes umschlossen, von dieser verästelt, unfertig liegen gebliebenen Stimme, zwischen der das, was sie noch nicht zu bedecken Zeit fand, hervorschaut. Vielleicht auch dies nicht. Vielleicht aber gibt es irgendwo in der Welt einen Punkt, wohin diese zwei, überall
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