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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Umfang die Meinung derjenigen bestimmen, die als solche nicht an die Öffentlichkeit gelangt, so kann der Anspruch der öffentlichen Stimmen, die öffentliche Meinung zu vertreten, sich auf einiges stützen. Aber er ist darum doch keineswegs unproblematisch. Denn diese Stimmen der öffentlichen Meinung sind ja selbst in vieler Hinsicht die von Interessenten, und es kann ihnen jedenfalls entgegengehalten werden, daß sie die öffentliche Meinung nur soweit seien, wie sie die öffentliche Meinung machten. Dabei steht nun freilich dahin, ob und inwieweit ihnen das gelingt. Es hat sich zum Beispiel in Amerika wiederholt gezeigt, daß, während die gesamte Presse des Landes sich einem bestimmten Kandidaten entgegenstellte und ihn so behandelte, als wäre er bereits erledigt, dieser Kandidat gleichwohl gewählt wurde. Weiter ist zu fragen, ob jene Stimmen der öffentlichen Meinung, also die Stimmen derer, welche an Positionen gelangt sind, die es ihnen erlauben, so zu reden, als spreche aus ihnen der objektive Geist, – ob diese Menschen sachlich auch wirklich zuständig sind. Es sei nur an die Möglichkeit erinnert, daß etwa in einem kulturellen Bereich Kritiker, welche reden, als wären sie die Vertreter des Publikums und zugleich sachverständig, selber hinter der Entwicklung der Kultursphäre, über die sie urteilen, zurückgeblieben sind. Dann läßt ihre Meinung der objektiven Tendenz keine Gerechtigkeit widerfahren, sondern sabotiert sie durch überholte Normen.
    In einer Gesellschaft, welcher die Demokratie weder ein leeres Schlagwort noch ein bloßes formales Prinzip bedeuten soll, ist es daher zumindest notwendig, alle institutionellen Ansprüche, die öffentliche Meinung zu vertreten, immer wieder, gleichsam von unten, zu überprüfen.
    Dafür nun stellt die moderne Sozialwissenschaft gewisse Techniken bei. Gerade angesichts der Verselbständigung von Kultur und Institutionen gegenüber den Menschen versuchen diese wissenschaftlichen, objektiven Methoden, soweit es möglich ist, auf jenes Einfachste, die Meinung der einzelnen Menschen selber zurückzugreifen, ohne sich im übrigen darüber zu täuschen, daß diese Meinung ihrerseits eine Funktion des gesellschaftlichen Kräftespiels ist und, wie bereits gesagt, vielfach modelliert wird von institutionellen Mächten.
    Es ist also davon auszugehen, daß die öffentliche Meinung aus den Einzelmeinungen gebildet wird, aber doch daran festzuhalten, daß man sie nicht einfach als deren Summe bezeichnen kann. Das ist nur in Sonderfällen – bei einer Wahl etwa – und auch dann nur mit Einschränkungen möglich, wenn die Meinungen so weit verdichtet, gleichsam auskristallisiert sind, daß man sie konkret erfassen und zählen kann. Aber was man dabei erfaßt, bleibt doch recht beschränkt. Man weiß schließlich zwar, wieviel Prozent der Wähler von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten und wieviel es nicht taten, man kann die Wähler und die Nichtwähler nach statistischen Kategorien aufschlüsseln, aber man weiß nicht, aus welchen Gründen die Nichtwähler, die häufig zahlenmäßig einen erheblichen Anteil darstellen, keiner der Parteien ihre Stimme gaben. Man vermag ferner wohl anzugeben, wieviel Prozent der abgegebenen Stimmen auf die verschiedenen Parteien entfielen, aber man ist außerstande zu sagen, wieviel Wähler sich für die von ihnen gewählte Partei aus voller Übereinstimmung mit deren Zielen entschieden und wie viele es nur taten, weil sie in dieser Partei das kleinere Übel erblickten. Weiter kann die Meinung der einzelnen so festgefügt sein, daß sie ohne Zögern und jederzeit geäußert wird – selbst wenn man den Betreffenden aus tiefstem Schlafe weckt, um ihn nach ihr zu fragen. In anderen Fällen aber ist sie zwar ebenfalls durchaus bewußt und ohne Schwierigkeiten in Worte zu fassen, jedoch noch nicht so geronnen, daß es nicht möglich wäre, sie zu beeinflussen und zu verändern. Schließlich kann sie so nebelhaft und unbestimmt sein, daß sie je nach der Stimmung und den Einflüssen, denen der einzelne gerade unterliegt, wechselt. Darüber hinaus besteht oft ein sehr großer Unterschied zwischen dem, was die Menschen als ihre in einer bestimmten Situation zu erwartenden Handlungen ausgeben und dem, was sie dann in einer solchen Situation wirklich tun. Endlich ist es von größter Bedeutung, daß der einzelne nicht als Monade lebt, sich seine Meinung nicht gleichsam im luftleeren Raum bildet, sondern in ständiger Kommunikation mit anderen,

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