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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Verhältnis zur Politik latent. Die offen politische Kunst zeigte schon damals Symptome jenes aufgewärmten Realismus, der heute jenseits des eisernen Vorhangs als philiströse Norm aufgerichtet ist. Aber es war damals, als hätte die Oberfläche des gesellschaftlichen Gefüges für eine Sekunde erzittert. Das registrierten die Versuche gerade jener Künstler und Theoretiker, die keiner dinghaften Praxis sich verschrieben. Ohne vielleicht vom gesellschaftlichen Augenblick nur zu wissen, folgten sie ihren Regungen und drückten in diesen den Nonkonformismus, die Aufkündigung des Einverständnisses aus. Das hat nach dem Zweiten Krieg sich nicht wiederholt. Die Gesellschaft spaltet sich in starre Blöcke. Was geschieht, empfinden die Menschen als ihnen angetan, nicht als Anliegen ihrer eigenen Spontaneität. Darum ist das schattenhaft mit sich selber Spielende des Geistes, das ihn verkümmern läßt, keineswegs bloß auf sein eigenes Schuldkonto zu setzen. Es entspringt einer objektiven Notwendigkeit, die solange übermächtig bleibt, bis nicht das Bewußtsein sie in die eigene Reflexion aufnimmt und damit über sie hinaus geht. Die Welt ist aufgeteilt in unmäßige und übermächtige Kraftfelder. Der Geist sieht sich vor dem Zwang, entweder sich anzupassen oder zur Isolierung, zur Ohnmacht, zur Donquixoterie sich verurteilt zu sehen. Die Stärke, deren man bedürfte, um solche Schwäche aus Freiheit zu wählen, und damit vielleicht zu überwinden, ist fast größer, als man sie von irgendeinem Menschen erwarten kann. Die Möglichkeit einer anderen, im Kern ihres Lebensprozesses befreiten Gesellschaft liegt so nahe wie verschüttet. Wer etwa naiv auf sie vertraute, verfiele einer Träumerei, die erst recht den blinden Machtkonstellationen zugute käme. Das macht die geistige Stagnation heute zu einer Sache des objektiven Geistes, nicht zu einer der bloßen Unzulänglichkeit oder des bösen Willens. Die Welt ist aus den Fugen, aber die Fugen sind mit träger Masse ausgefüllt; die Kultur ist in Trümmern, aber die Trümmer sind weggeräumt, – und wo sie noch stehen, sehen sie aus, als wären sie ehrwürdige Ruinen.
    Es wäre wohl an der Zeit, über den Begriff des Geistes selbst erneut nachzudenken. Die Vorstellung, daß er ein sich selbst genügendes Leben in sich habe, daß er ein absolut in sich Ruhendes, ja die Wirklichkeit gewissermaßen erst Stiftendes sei, liegt jener Schattenkultur zugrunde, von der ich sprach. Diese Auffassung von Geist gehört zum deutschen Idealismus. Es entbehrt nicht der Paradoxie, daß sie weiterwirkt, ja daß sie bis zum Aberwitz losgelassen ist in einem Augenblick, da gerade die Repräsentanten des Geistes unablässig aufs Ende des Idealismus verweisen. Solche Fortdauer idealistischer Vorstellungen erklärt sich wohl damit, daß es um die jüngste antiidealistische Bewegung nicht so gar ernst bestellt ist. Jenes Sein, dessen Mächtigkeit sie am Ende bloßem Denken entgegenhält, kommt wohl in der Tat bloß auf das heraus, wofür man es zu Beginn der abendländischen Philosophie, in der eleatischen Spekulation, genommen hat, auf bloßes Denken. Der Geist, der, wenn Sie mir das banale Wort gestatten, als produktiv sich bewährte, hat nie als reinen Geist sich selber verstanden. Noch seine sublimen Kundgaben, noch die zartesten Bilder des Eros, noch die luftigsten Gedankengebilde von der Versöhnung des Geistes mit der entfremdeten Welt haben davon gelebt, daß in ihrem eigenen Sinne der Hinweis auf die Veränderung der gesellschaftlichen Realität lag. Nicht als ob die großen Kunstwerke, die großen Philosophien stets politisch gewesen wären. In den bedeutendsten Augenblicken waren sie es kaum. Aber die Konsequenz ihres eigenen Sinnes zielte auf Politik. Was sie zum Geiste wahrhaft machte, was ihnen Schönheit verlieh, war die wie sehr auch vermittelte Möglichkeit solcher Konsequenz. Goethe hat die Gretchen-Tragödie nicht geschrieben, um die Gesetzgebung gegen den Kindesmord zu reformieren. Wir wissen, daß seine politische Stellung in der Frage dem Gebet zur Mater dolorosa Hohn spricht. Aber die Gewalt von Gretchens Schmerz, dessen Lautwerden uns heute noch mehr bewegt, als alle geronnene Kultur, wäre nicht denkbar, wenn nicht die von der gesellschaftlichen Ordnung geschändete Natur, die da ihre Sprache findet, die Idee eines Zustandes heraufführte, in dem solches Leiden abgeschafft ist. Das Licht des Unzerstörbaren an den großen Kunstwerken und philosophischen Texten ist

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