Gesammelte Werke
Potential von Zukunft, selbst die Härte und Kälte des Bestehenden auf sich nahm; der Vornehme hat darüber kein Wort verloren. Inspiriert war er von dem, wofür Kraus die Verse fand: »Nichts ist wahr / und möglich, daß sich Anderes ereignet.« Das trug ihn über alle Enge und Armseligkeit, über allen Provinzialismus hinweg. Ein utopischer Impuls lebte in ihm, um so großartiger, als er inmitten einer Ordnung sich regte, die seiner Entfaltung nicht günstig zu sein pflegt, und die er gleichwohl als substantiell empfand. Er hatte die Fähigkeit der Erweiterung inmitten seiner Bestimmtheit. Vieles an dem Protestanten Trakl, in dessen Lyrik die katholische Kulturlandschaft gleichwie nach einer Explosion sich darstellt, muß ihm fremd gewesen sein und vollends die Strenge von Kraus, die kein gestuft Vermittelndes duldet. Aber Ficker hat das ihm Konträre um seiner Wahrheit willen unwillkürlich sich zugeeignet.
Mir wurde das mich selbst erstaunende und tröstliche Glück zuteil, stets wieder nahe Berührung zu Trägern jener Überlieferung zu finden, die ich aus innerem Zwang kündigen mußte. Am Namen Fickers haftet eine der spätesten und eindringlichsten Erfahrungen dieser Art: die eines traditional fühlenden Menschen, der, weil ihm verbindlich ist, was die Tradition an Formen und Normen ihm zuträgt, darüber sich erhebt und in vielem einem erst sich bildenden Besseren reiner hilft als der unverdrossene, seiner selbst sichere Fortschritt. Wenige wüßte ich, in denen Gewesenes und Hoffnung so innig sich durchdrungen hätten; wer will, daß es anders werde, muß wollen, daß es weiter seinesgleichen gebe. Darum ist die Herausgabe seiner Aufsätze und Reden mehr als der Dank an den Selbstvergessenen: ein Stück emphatischer Erinnerung im Zeitalter universalen Erinnerungsverlusts. Er bringt dem gegenwärtigen Bewußtsein ein Moment zu, dessen es erst recht bedarf angesichts der Unwiederbringlichkeit des Vergangenen: aktuell um seiner Unaktualität willen.
1967
Fußnoten
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Vgl. Ludwig von Ficker, Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze, Reden. Hrsg. von Franz Seyr. München 1967.
Keine Würdigung
Mich drängt es, zum fünfzigsten Geburtstag Heinrich Bölls Eines zu sagen – mehr zu sagen vermag ich, leider, im Augenblick nicht. Böll ist einer der erfolgreichsten deutschen Prosaschriftsteller seiner Generation, von internationalem Ruf. Er gilt zugleich, seit seinen Anfängen, als fortschrittlich; keiner wird ihn retrospektiv-kulturkonservativer Gesinnung bezichtigt haben. Und er ist aktiver, praktizierender Katholik. Die Konstellation dieser nicht leicht versöhnbaren Momente hätte ihn vorbestimmt zum offiziellen deutschen Dichter, zu dem, was man repräsentativ nennt. Man hätte ihn beschlagnahmt als Zeugen für den bestehenden Zustand, ohne daß er sich als dessen Ideologen verdächtig gemacht hätte und damit wiederum der herrschenden Ideologie Abtrag getan. Die allgemeine Billigung hätte, bei seiner Modernität, nicht dem Verdacht des Reaktionären sich ausgesetzt; man hätte an seinem Engagement ethisch sich wärmen können und hätte dennoch, angesichts seiner Kirchentreue, wenig riskiert. Ihn feierlich zu approbieren, wäre von Festrednern mit Tiraden über die echte Bindung zu vereinen gewesen. Der Lockung alles dessen zu widerstehen, bedarf es, wie sehr sie auch Ironie herausfordert, außerordentlicher geistig-moralischer Kraft. Böll hat sie aufgebracht. Die Trauben hingen ihm nicht zu hoch: er hat sie ausgespuckt. Mit einer in Deutschland wahrhaft beispiellosen Freiheit hat er den Stand des Ungedeckten und Einsamen dem jubelnden Einverständnis vorgezogen, das schmähliches Mißverständnis wäre. Dabei hat er sich mit allgemeinen Deklarationen über die Schlechtigkeit der Welt, oder mit der Bekundung jener Reinheit, welche keinen Schmutz anfaßt, nicht begnügt. Er hat dort zugeschlagen, wo es weh tut: dem Schlechten, das er mit den krassesten Namen bedachte, und ihm selbst, der solche Namen für das wählen mußte, womit er ursprünglich identifiziert war. So ist er wirklich zum geistigen Repräsentanten des Volkes geworden, in dessen Sprache er schreibt, während er, hätte er solche Repräsentanz von sich aus übernommen, sie verraten hätte. Kein Jasager und Apologet wird sich auf ihn als leuchtendes Beispiel berufen dürfen; deshalb ist er Beispiel. Es hätte nur einer Geste, nur eines unmerklichen Tons sogenannter Positivität bedurft, und er wäre der poeta laureatus
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