Gesammelte Werke
mit denen sie es sich selber verbieten. Die gemeinsame Sprache ist nicht länger ein Medium der Kommunikation, sondern eines der Ansteckung.
1940
Physiognomik der Stimme
Das Buch von Paul Moses 1 hält mehr, als es verspricht. Es tritt auf als eine fachärztliche Untersuchung über den Zusammenhang zwischen den Stimmfunktionen beim Sprechen und Singen und seelischen Erkrankungen, den Neurosen und Psychosen, die übrigens Moses, seinen spezifischen Beobachtungen vertrauend, strikter auseinanderhält, als es sonst in der heutigen Psychopathologie üblich ist. Er deutet Stimmphänomene als Ausdruck unbewußter Konflikte und betrachtet Stimmschwierigkeiten vom Schlage der Heiserkeit oder des Flüsterns mehr oder minder psychotherapeutisch, hofft aber auch umgekehrt dem Psychischen durch Stimmbehandlung beizukommen. Absehbar jedoch wird nicht weniger als die Konzeption einer Physiognomik der Stimme. Das Verständnis von Krankheit hilft wie insgesamt in der Psychoanalyse, deren Methode Moses am nächsten sich fühlt, das zu begreifen, was unterm Namen des Normalen geht.
Moses ist in ein bislang, mit ganz wenigen Ausnahmen wie Karl Bühler und Otto Iro, auffällig vernachlässigtes Bereich der Ausdruckswissenschaft eingedrungen. Vor analogen Bestrebungen wie der Graphologie hat die Physiognomik der Stimme nicht nur den Vorzug, daß sie eine noch nicht mit Interpretationskategorien überbesetzte, abgegraste und abgegriffene Schicht trifft, sondern auch den weit größerer Unmittelbarkeit der zu erschließenden Phänomene selber und ihres von Moses (S. 92) hervorgehobenen dynamischen Charakters. Mag immer die Stimme ähnlich eine Resultante aus Sprech- oder Singkonventionen und individuellen psychischen Impulsen sein wie die Schrift eine aus Schreibvorlage und Ausdrucksimpuls: die Stimm-Modelle sind kaum ebenso vergegenständlicht wie die Schreibvorlagen, die jede Generation in der Schule erlernt. Dadurch macht die Stimmphysiognomik an psycho-dynamischem Erkenntniswert wett, was sie durch die Flüchtigkeit des Lautes einbüßt. Insgesamt dürfte die Stimme, wie es der frühen romantischen Ausdruckstheorie nicht fremd war, ein Mittleres zwischen Schrift und Gestus bilden.
Das zu enträtseln, ist Moses besonders qualifiziert. Er verbindet präzise klinische Kenntnis der Stimme und psychologische Übersicht mit einem primären physiognomischen Gehör, dessen Erfahrungsreichtum sich nur mühsam hinter der offiziellen wissenschaftlichen Apparatur versteckt. Er weiß etwas von der Urgeschichte der Stimme und dem Preis, den auch diese für den Fortschritt zu zahlen hat: »Sinnliche Tonphänomene waren Vorgänger der Wort- und Satzfügung. Die Menschheit lernte, sich nicht nur durch Gesten auszudrücken, durch nachahmende Laute, durch Schreie des Leides und des Jubels, sondern durch Wortbildung. Dabei begann jedoch der Stimmumfang in einem Maß zu schrumpfen, daß heutzutage Sprachmelodie nichts weiter darstellt als eine Tonleiter des Gefühlsausdrucks, als Begleitmusik der vernunftbedingten Artikulation. Nur wenn die Kontrollen versagen wie in der Erregung oder im Trunk, dann wird die Urstimme wieder hörbar.« (46) Daran schließt eine Aussage sich an, deren Fruchtbarkeit für die Dechiffrierung von Musik schwer zu überschätzen ist: »Singen ist eigentlich ein Kompromiß, ein Zurückrufen eines Echos des reinen Glücksgefühls aus der Zeit der primitiven Vokalisierung.« (46) Hinter solchen Einsichten bleiben die einzelnen physiognomischen Einsichten nicht zurück. Etwa diese: »›Kindersprache‹ aus dem Mund des Erwachsenen kann für das Kind lächerlich, wenn nicht furchterregend sein. Pseudoväterliche, gönnerhafte Stimmen des Weihnachtsmannes oder des befangenen Arztes sind in gleicher Weise verwirrend. Unbewußte Verstoßung von seiten eines oder beider Eltern wird mehr aus der Stimme als vom Inhalt des Gesagten herausgehört, und so entsteht ein Konflikt, obwohl die Erwachsenen denken, ›alles wäre in bester Ordnung‹.« (27) Oder eine, die sich auf die »Koketterie der Schwäche« beim Sprechen vieler Frauen bezieht: »Eine andere Möglichkeit besteht im Gebrauch infantiler Artikulationsformen, die bedeuten sollen: ›Hört ihr, wie klein ich noch bin? Ich brauche also Schutz.‹ Extreme Reaktion besteht in der Weigerung zu sprechen, im ›beredten Schweigen‹.« (27f.) Nicht minder genau vernimmt Moses die »Stimme der Versagung« oder die der Depression: »Das depressive Individuum ist nicht
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