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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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geneigt, der unfreundlichen Welt eine große Oberfläche entgegenzuhalten. Der Patient ›schrumpft‹.« (102) Sehr schön wird das bezogen auf die mimetische Anpassung ans Tote, den »unterbewußten Wunsch, völlig zu verschwinden«: »Der Ausdruck des Schreckens ist immer ›verhaucht‹. Das Wort ›Horror‹ drückt dies im Lateinischen und Englischen onomatopoetisch aus.« (42)
    Der Stimmphysiognomik gilt indessen keineswegs Schwäche für pathisch und Stärke für gesund. Moses entdeckt, an einer der produktivsten Stellen des Buchs, den Mechanismus der Reaktionsbildung in der Stimme: »Die Stimme der Autorität ist tief. Die Lehrer, Anwälte, Richter, Priester brauchen oft eine tiefe Stimme, um autoritativ zu wirken, wobei sie den tiefsten Teil des potentiellen Umfangs anwenden und das Brustregister vermehren. Innerhalb dieser Stimme der Autorität gibt es wieder Variationen, zum Beispiel die ermahnende Stimme, das stimmliche Gegenstück zum erhobenen Zeigefinger. Diese Stimme ist nicht tief, aber begrenzt im Umfang und in der Melodie.« (49) Das wird weiter verfolgt: »Wenn aber der Stimmumfang des Individuums relativ kleiner ist als der üblicherweise gebrauchte, dann handelt es sich um den Ausdruck von Hemmungen. Die ermahnende Stimme möchte die schon niedergezwungenen Emotionen noch weiter eindämmen und versucht, den Hörer dazu zu überreden, dasselbe zu tun. Das ist die Stimme des Puritaners.« (49) Zusammengefaßt: »Autorität hat die Nebenbedeutung der Sicherheit, besonders für das Kind und für den Schwachen. In unserer Kultur ist das Gewähren von Schutz und Mitgefühl ausgedrückt durch tiefe, beruhigende Töne mit dem Brustton der Aufrichtigkeit. Lehrer und Priester, sofern sie nicht zum ermahnenden Typ gehören, haben einen weiteren Umfang und ein betontes Brustregister. Die Stimme des Arztes am Krankenbett ist nur zu oft stereotyp, jedenfalls hat sie eine beschränktere Melodie als die des Lehrers und Priesters. Jede Art von Überkompensierung oder Unsicherheit in autoritativen Stellungen kann an der tiefen Stimme und der übertriebenen Melodie leicht erkannt werden.« (49)
    Die zentrale Kategorie zur Erklärung irgend beschädigter Stimmen ist die der
mißglückten Identifikation,
etwa nach dem Modell: »Es ist, als ob das Individuum gewisse Schwächen zu verbergen wünscht hinter einem allgemein akzeptierten stereotypen Ausdruck. Wegen dieses Mangels an Echtheit kann man Original und Parodie oft so schwer unterscheiden. Diese Stereotypien kann man unter manchen neurotischen Vorstellungsformen finden. Wenn das Imitieren der Stimme so leicht ist, dann wird es gebraucht für Introjektion, für neurotischen ›geliehenen‹ Ausdruck des Wunschtraumideals. Auf diese Weise wird es stimmliche Uniform, Stimmtyp von Gruppen, Orden, Studentenverbindungen, von Banden und Gangstern. Wer immer ›dazugehören‹ möchte und sich immer noch außerhalb fühlt, wird zuerst diese Melodiestereotypien annehmen.« (66) Das wird dann später (96) auf den nicht unproblematischen Begriff eines Mangels an sozialer Anpassung gebracht, wie denn überhaupt das Buch individuelle Konflikte allzu bereitwillig an der herrschenden Norm mißt und das nicht ›Normale‹ als neurotisch verwirft, ohne dem Moment des Widerstands der Stimme gegen die Konformität gerecht zu werden. Die Stimme der Neurose, die der mißglückten Identifikation, muß nicht durchaus die Stimme der Unwahrheit sein; Narben der Stimme sind keine Schande.
    Daß es der Pionierarbeit gegenüber insgesamt nicht an Einwänden fehlt, versteht sich. Musikalische Begriffe wie der des Rhythmus, der Melodie und vollends der von Dur und Moll scheinen allzu umstandslos auf die Sprechstimme übertragen, für deren Bereich sie nicht wörtlich, sondern allenfalls metaphorisch gelten; ohnehin ist der Begriff Rhythmus vieldeutig, insofern er einerseits alle sukzessiven Lautverhältnisse, andererseits nur mehr oder minder regelhafte, symmetrische unter sich faßt. Fragwürdig ist auch die Trennung des rein physiognomischen Stimmcharakters vom Inhalt des Gesagten: darin folgt Moses, trotz obligater Anerkennung der ›Ganzheit‹, der wissenschaftsüblichen Tendenz des Isolierens verschiedener Dimensionen. Seine methodische Absicht geht auf die Stimme als Inbegriff formaler Charakteristiken der Person, etwa wie der Rorschachtest. Aber die Sache treibt ihn allenthalben darüber hinaus. Die schlagendsten Formulierungen gelingen ihm dort, wo er den Zusammenhang zwischen

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