Gesammelte Werke
Stimme und konkreten Situationen und Inhalten, zuweilen selbst gesellschaftlichen, herstellt, wie in der erstaunlichen Perspektive: »Wagner nahm die weibliche Emanzipierung für dreißig Jahre vorweg, indem er die dramatischen Sopranpartien schuf.« (48)
Ein leiser Widerspruch von Methodologie und Durchführung charakterisiert das ganze Buch: es schließt sich, etwas ängstlich, an etablierte Spielregeln an, redet beispielsweise über die angebliche Intuition und ihre Unzulänglichkeit im herkömmlichen, forciert akademischen Ton. Die erklärenden psychologischen Aussagen sind nicht ebenso subtil wie die primären Innervationen am Material. Stichhaltig jedoch werden die Gedanken überall dort, wo sie sich jeglicher Gedankenkontrolle auch solcher Begriffe wie des der Anpassung oder des heute besonders fatalen der Kommunikation entschlagen. Gewiß will Moses mit gutem Grund in einem Bezirk, der nach den verschiedensten Richtungen der Scharlatanerie offen ist, die Zuverlässigkeit seiner Befunde schützen. Aber diese Zuverlässigkeit, die Erfahrung, welche seine Thesen inspiriert, ist so offenkundig, daß er der Vorsicht wahrhaft nicht bedürfte. Er könnte sich getrost dem eigenen Kompaß anvertrauen und alles aussprechen, was er wahrgenommen hat; die emsige ›Verifizierung‹ sollte er ohne Sorge anderen überlassen. Verfolgte er seine Intentionen rücksichtslos weiter, so würden sie, über die Stimmphysiognomik hinaus, der Musik zugute kommen und helfen, musikalische Tonfälle, den ›Ton‹ der Komponisten zu verstehen.
1957
Fußnoten
1 Vgl. Paul Moses, Die Stimme der Neurose, Stuttgart 1956.
Karl Korn, Die Sprache in der verwalteten Welt. Frankfurt a.M.: Verlag Heinrich Scheffler 1958.
Seit auf den Gebrauch der deutschen Sprache kritisch reflektiert wird – mit nachdrücklichem polemischen Anspruch geschah das erstmals wohl bei Schopenhauer –, stellt die geschriebene, dann auch die gesprochene Sprache als unaufhaltsam zerfallend sich dar. Indem das Unheil stets das gleiche bleibt, schreitet es zugleich fort. Das Unveränderliche selber droht mit dem Untergang; jeder Augenblick scheint der letzte, und das nötigt zu jenem Gedanken an den Zerfall, der wahr bleibt gegen die verlogene Apologie, schlimmer ginge es schon gar nicht. Hineingerissen ist die Sprache in die Dynamik des anwachsenden Widerspruchs zwischen der Wahrheit, die zu sagen wäre, und dem Gebrauch der Mittel, der es verhindert, sie zu sagen. Um dieser Dynamik willen aber darf die Reflexion auf die Sprache sich nicht in eintönigen Jeremiaden erschöpfen, sondern muß ihren Gegenstand je in seinem historischkonkreten Stand ergreifen. Karl Kraus, der wie ein leibhaftiger Dante noch die Hölle als kunstvollen Stufenbau anschaute, hat dieser Forderung aufs strengste genügt. Seine Sprachkritik war wesentlich eine an der liberalen Rede; dem Fluch, daß das gleiche Recht aller auf die Kommunikation zum Unrecht an der Sache und dem Ausdruck wurde. Gewiß hat er darauf so wenig sich beschränkt, wie die Gesellschaft, in der er lebte, noch rein liberal war. Er hat nicht nur den Fäulnisprozeß unter der totalen Herrschaft und den ihr nachgeahmten Formen des objektiven Geistes gewahrt; in der »Dritten Walpurgisnacht« kommt schon »Geht in Ordnung« vor, eine selbstzufrieden unmenschliche Form der Meldung, die heute erst, nach dem Untergang des Hitler, in Volksgut sich verwandelte.
Das Buch von Karl Korn über »Sprache in der verwalteten Welt«, das 1958 im Heinrich Scheffler-Verlag in Frankfurt am Main herauskam, bringt nun die Diagnose auf den jüngsten Stand. Das Werk von Kraus ist implizit vorausgesetzt; was aber dort erst als neuer Höllenkreis unter dem vorigen, der aus Dummheit und Gemeinheit gezeugten Schlamperei, sich abzeichnete, wird nun unerschrocken betreten. Wahrhaft unerschrocken. Denn da dient weit und breit kein Vergil als Mentor: keinen Kanon des Richtigen oder Falschen gibt es mehr, an dem die Sprache sich messen ließe, und dem kritischen Ohr bleibt nichts übrig, als der Erfahrung ihrer Unwahrheit schutzlos sich zu überlassen. Ein bedeutender Philologe sagte mir vor einiger Zeit, noch die scheußlichsten Mißbildungen der Sprache der verwalteten Welt seien historisch zu belegen. Ich will ihm das glauben, aber die Mißbildungen werden durch ihren Ahnenpaß so wenig besser wie irgend etwas in der Welt durch den Verweis auf seinen Ursprung; nicht auf die Herkunft der Worte kommt es an, sondern auf den
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