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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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von einem Zum ersten Mal. Die Rede vom zum zweiten Mal entdeckten Nordpol erfüllt sich. Aber dem Emigranten ist ohnehin die Zeitordnung zur Unordnung geworden. Die Jahre der faschistischen Diktatur sind aus der Kontinuität seines Lebens herausgesprengt; was in ihnen sich zutrug, fügt dem anderen kaum sich ein. Kehrt er zurück, so ist er gealtert zugleich und so jung geblieben, wie er im Augenblick der Verbannung war, ein wenig wie Tote für immer das Alter behalten, in dem man zuletzt sie kannte. Er wähnt dort fortsetzen zu dürfen, wo er aufhörte; die heute so alt sind wie er 1933, scheinen ihm Gleichaltrige, und doch hat er sein reales Alter, das mit dem anderen sich verschränkt, es durchbricht, ihm Hintersinn verleiht, es Lügen straft. Es ist, als hätte das Schicksal jene, denen es widerfuhr und die es überleben durften, in eine zugleich mehrdimensionale und durchlöcherte Zeit versetzt. So mag es dem verspätet Fliegenden erlaubt sein, einiges von dem aufzuzeichnen, was er zu beobachten glaubte.
     
    Beim Tagflug über den amerikanischen Kontinent von Los Angeles nach New York, der etwa zehn Stunden währt, scheinen alle gänzlich an das gewöhnt, was sich abspielt. Vom Fliegen überhaupt zu reden, hält man für unter seiner Würde; es wird auch kaum hinausgeblickt. Viele Kinder sind in dem Passagierraum, der vom Inneren eines modernen amerikanischen Schnellzugs kaum sich unterscheidet: auch dieser enthält Abteile, die der Aussicht vorbehalten sind. Die Kinder nehmen wenig Notiz von dem, was vorgeht, sie sind still, spielen oder schlafen, als wären sie damit aufgewachsen, nicht einmal die technische Apparatur, der überreich ausgestattete Steuerungsraum, scheint sie zu interessieren. Die Reisenden sind keineswegs mondänes Publikum; Geschäftsleute, bescheidene Mütter herrschen vor. Nichts von Luxus und Ausnahme. Es geht rascher. Kein Schauder: das Bild des Fluges ist stumpf, einfarbig geworden.
     
    Daß nicht mehr herausgeblickt wird, liegt ein wenig auch an der Sache. Die Sicht ist größtenteils blockiert von den Seitenflügeln mit den vier riesigen Motoren, die das Vehikel paläontologisch erscheinen lassen wie den dreigehörnten Dinosaurier Triceratops, den letzten von allen. Freilich ist wie in den transkontinentalen Schnellzügen eine Art Salon vorgesehen, ein ovaler gefensterter Teil am Ende, aber es wird nicht allzuviel Gebrauch davon gemacht. Das Ganze erinnert an die Eisenbahnen neuesten Stils, auch an Autobusse, metallglitzernd, abgedichtet, gleichsam plombiert. Man ist der Institution überantwortet; was man zu tun oder lassen habe, wird einem jeweils durch Transparente kundgegeben. Manchmal besagen sie, man solle sich mit einem Leibgurt festschnallen. Da nichts erfolgt, was einen aus dem Sitz aufstört, so schöpft man den Verdacht, es werde durch den Gurt dafür gesorgt, daß keiner im Fall einer Katastrophe auf eigene Faust entkommen könne; doch ist das Innere des Flugzeugs so dicht verschlossen, daß ohnehin die Gefahr der eigenmächtigen Rettung schwerlich besteht. Weniger durch die Höhe als durch die Isolierschicht der Organisation ist man von den Eindrücken getrennt, die man sich verspricht. Vielleicht erklärt das etwas von der Gleichgültigkeit der Passagiere. Die erregendste Erfahrung ist derart reguliert, daß es kaum zur Erfahrung kommt.
     
    Gelingt es, die Erde zu erkennen – man fliegt über den Wolken, stolpert manchmal über sie, wie über ein holperiges Pflaster, und sie tragen das Ihre zur Isolierung bei –, so ähnelt sie den Landkarten, Gebirge den physikalischen, Ebenen den politischen. Die Rocky Mountains erscheinen als graugetöntes Relief, der mittlere Westen, in schwachem ungewissen Grün, zeigt gerade geschnittene Linien. Man meint, rechteckig folgten die Staaten aufeinander nach ihrem Bilde aus dem Atlas der Kindheit. Manchmal aber bildet der hastige Blick sich ein, er werde der fernen enteilenden Erde gewahr als einer Kugel. So ist sie, aus Raketen, bereits photographiert worden.
     
    Auch der lange zu fliegen zögerte, bleibt frei von Angst. Der Luftdruck in den riesigen Aeroplanen ist ausgeglichen; Luftkrankheit gibt es in ihnen nicht mehr. Die Luftlöcher, von denen gefabelt wird, sind nicht zu merken. Nicht einmal der Augenblick, in dem man die Erde verläßt, läßt mit Sicherheit sich angeben. Vielleicht ist er übertönt von dem unmäßigen Tosen der Motoren, die unmittelbar vorher entfesselt werden, und denen man sich ausgeliefert fühlt so

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