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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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allesamt nur Dreck.
    Allmählich lernte ich verstehen, daß gerade diese halb naive Befangenheit im Traditionellen die Voraussetzung zum Kühnen, unbotmäßig Zarten abgab. Man mußte gleichsam gesättigt sein mit der ganzen Tradition, um sie wirksam negieren, um ihre eigene lebendige Kraft gegen die Erstarrung wenden zu können. Nur wo eine Tradition so überwältigend ist, daß sie die Kräfte des Subjekts bis ins Innerste formt und zugleich ihnen sich entgegensetzt, scheint etwas wie ästhetischer Avantgardismus überhaupt möglich zu sein; ganz ähnlich wie offenbar die großen Maler des Pariser Kubismus ohne ein Moment bürgerlichen Behagens sich nicht denken ließen. In Berlin, der Metropole als tabula rasa, hat es denn auch eine eigentliche Avantgarde damals kaum gegeben; Figuren wie Brecht, die deren Begriff am nächsten kamen, hatten selber etwas von jenem Süddeutsch-Traditionellen, das in Wien die Atmosphäre bildete, in der die große produktive Opposition von Schönberg und Loos, von Karl Kraus und, in den heroischen Zeiten, auch von Freud gedieh.
    Nicht als ob die Wiener Moderne mit denen paktiert hätte, die sich selbst als Hüter der Tradition deklarierten. Man hätte es damit nicht reiner halten können, als es im Kreis Schönbergs geschah, und unbeschreiblich war die Autorität, die von Kraus ausging. Aber oft dünkt es mir heute noch, als hinge das Nachlassen der inneren Spannung in der neuen Musik wesentlich damit zusammen, daß sie an keiner verbindlichen Tradition mehr kritisch sich zu erproben gezwungen ist wie damals in Wien. Der Verfall des technischen Standards ist davon kaum zu trennen.
    Ich weiß nicht, was heute, nach zwei Katastrophen und nach bald vierzig Jahren einer ökonomisch höchst prekären Existenz, von jener Spannung in Wien übriggeblieben ist; ich weiß vor allem nicht, ob es heute noch etwas wie eine substantielle, aus Tradition gespeiste Opposition gegen die Tradition gibt oder ob diese aus sich selber ein Monopol macht. Ich bin mir auch dessen bewußt, daß der Zusammenhang, auf den ich anspielte, nicht gewollt werden kann. Zu Recht besteht der Verdacht, daß er schon in dem Augenblick zu zerfallen droht, in dem er sich enthüllt und bei Namen angeredet wird. Aber ich kann mir doch nicht verbieten auszusprechen, warum ich leidenschaftliche Dankbarkeit fühle für eine Stadt, gegen die meine Freunde aufbegehrten und von der keiner loskam. Ohne sie wäre der Impuls zu jener neuen Kunst nicht möglich gewesen, die in Wien selber so wenig beliebt war. Ich kann mir kaum vorstellen, daß von den paradox nährenden Kräften Wiens nichts mehr übrig sein soll.
     
    1955
     
     

Beitrag zur Geistesgeschichte
     
    Daß es der Forschung sollte entgangen sein, läßt sich kaum annehmen; fraglos aber ist es dem allgemeinen Bewußtsein nicht gegenwärtig, und man tut recht daran, das denkwürdige geistesgeschichtliche Motiv zur Erinnerung zu bringen. Kant hat seinem Testament vom 28. Februar 1798 am 4. Dezember 1801 ein Kodizill angehängt und unter § 2 vermacht: »Meiner Köchin Louise Nietschin, wenn sie bei meinem Tode (noch im Dienst ist), sonst aber nichts, die Summe von zweitausend Gulden. Es sind aber alle in meinem Testament meiner Köchin etwa bestimmte Legate in diesem enthalten.« Es kann danach keinem Zweifel unterliegen, daß Kants Köchin Nietzsche hieß; denn das z, das ihrem Namen fehlt, und den des Philosophen gleich einem martialischen Schnurrbart schmückt, mag erst mit der Heroisierung des siegreichen Bürgertums in die Orthographie gedrungen sein und damit Zeugnis von einer Entwicklung geben, die man im übrigen auch an den Differenzen der Kantischen und Nietzscheschen Gedanken zu studieren vermag. Wenn aber dem wirklich so ist, dann erscheint der Haß Nietzsches gegen Kant und die idealistischen Systeme in ganz neuem Licht, und es eröffnet sich andererseits ein höchst unerwarteter Zusammenhang zwischen beiden Denkern. Denn von der Königsberger Köchin ist der Weg nicht weit zu jener polnischen Aristokratie, aus deren Blut Nietzsche sich herzuleiten liebte. Aber auch zum Ressentiment. Selbst dem freiesten Geist könnte es begegnen, daß er des eigenen Ursprunges überdrüssig wird, sofern ihm die Möglichkeit sich auftut, das Beste, Echteste seiner Natur – das Adlige habe der Vermittlung einer kleinen Bürgerseele und armseligen Köchin bedurft. Wie also, wenn der Haß gegen Kant nichts anderes bedeutete als den gegen die Köchin in ihm selber? Wenn die

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