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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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ohne alles Verhältnis zum eigenen Körper, daß man sich fügt, ohne recht fürchten zu können. Nur: sieht man senkrecht herunter, so hat man den Eindruck des ominösen Stillstandes. Das Flugzeug hängt reglos im Leeren, und man begreift nicht, daß es nicht in die Senkrechte stürzt, in der es da innehält. Bei der Landung aber ist die Berührung des Bodens nichts als ein sanfter Stoß.
     
    Wenn Träume sich erfüllen, ist es anders, als geträumt ward. So auch beim Fliegen. Wenig, wenn irgend etwas, hat es mit dem Flugtraum gemein. Denn man wird nicht seiner selber als des Fliegenden inne. Man tut nichts dazu, ist ganz Gegenstand, sei es eines vom eigenen Willen schlechterdings unabhängigen Vollzugs, sei es der verwaltenden Betreuung. Was der Flugtraum meinte, schwerelose Freiheit, ist abwesend: man fühlt sich deutlich schwerer als die Luft. Nicht einmal an den fliegenden Teppich denkt man in der Metallhülle. Aber ein ganz Anderes wird wahr. Wer hätte nicht schon von Gebirgen geträumt, so hoch, daß es erst die rechten Gebirge wären, hinter denen die Alpen zu Zwergen schrumpfen; wer nicht von Portalen, so mächtig, daß eine Menschheit von Riesen sie durchschreiten könnte. Diese Dimension erschließt sich dem Flug. Die blasse entschwindende Erde ist nicht länger die Mitte der Welt, sondern ein Element des Kosmos. Man findet sich in jener Größenordnung, die der Traum verspricht und die Erde versagt. Erst jetzt wird die kopernikanische Wendung, jahrhundertelang bloß abstraktes Wissen, das nichts darüber vermochte, daß uns die Sonne auf- und untergeht, lebendig eingeholt. In der abenteuerlichen Verkürzung des Fluges, als verkleinerte, wird die Erde zu dem Himmelskörper, den der Wunsch sich ausmalt, Stern unter Sternen, und entbindet die Hoffnung auf solche, die ihr nicht gleichen. Indem sie unter uns zurückbleibt und verschwindet, regt sich das zaghafte Vertrauen, es möchten die anderen Gestirne von Glücklicheren bewohnt sein als wir es sind.
     
    1954
     
     

Kleiner Dank an Wien
     
    Als einer der vermutlich nicht eben zahlreichen Reichsdeutschen, die während der zwanziger Jahre nach Wien gingen und dort Entscheidendes ihrer künstlerischen Bildung empfingen, darf ich vielleicht an eine spezifische Erfahrung erinnern, über deren Tragweite ich mir erst sehr viel später klar wurde, die aber etwas von dem berühren mag, was das österreichische Element einem Deutschen bedeuten konnte.
    Nach Wien bin ich gegangen, weil ich bereits ganz früh die Musik der Schönberg-Schule kennengelernt und eine ursprüngliche Wahlverwandtschaft zu ihr entdeckt hatte. Komposition studierte ich bei Alban Berg und Klavier bei Eduard Steuermann. Meine Absicht war nicht nur, meine musikalische Ausbildung derart weiter zu treiben, wie ich es als mir vorgezeichnet empfand, und gewissermaßen in Wien das zu lernen, was als das mir künstlerisch Gemäße mir längst vor Augen stand. Sondern mich trieb die Solidarität mit einer musikalischen Avantgarde, deren konzessionsloser Radikalismus weit hinter sich ließ, was sich im Deutschland derselben Jahre – etwa beim frühen Hindemith – fand. Aber mich überraschte in Wien, und zwar eben inmitten jenes strengen und avantgardistischen Kreises, eine Stärke der Tradition, künstlerisch und in der Lebensführung, die den doch weit weniger exponierten deutschen jungen Musikern ganz fremd war. Das Moderne, das war zugleich das Artistischere, Gewähltere, Empfindlichere; kurz das, was mehr an Geschichte und Diskriminierungsvermögen in sich trug. Rasch genug entdeckte ich, daß diese furchtlosen und zur Auflösung alles Vorgegebenen bereiten Künstler zugleich mit einer gewissen Naivetät und Selbstverständlichkeit in ihrer selbst nach dem Sturz der Monarchie noch halb geschlossenen, halb feudalen Gesellschaft existierten und daß sie gerade ihr jene sinnliche Kultur und unduldsame Subtilität verdankten, die sie mit dem geistigen Konformismus in Konflikt brachte. Oft habe ich damals gestaunt über das, was meiner Unreife ein Widerspruch schien zwischen der Kühnheit der Innovation und der hochmütigen Lässigkeit, mit der zahllose Kategorien eines fest gefügten gesellschaftlichen und auch geistigen Gefüges hingenommen wurden. Die Reichsdeutschen galten der Wiener Avantgarde vielfach als eine Art geschichtsfremder und plumper Provinzialen, und nie werde ich vergessen, wie Alban Berg im Dezember 1925 in Berlin mir in vollem Ernst auseinandersetzte, die Deutschen äßen

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