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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Keiner wird ihr das Recht bestreiten und keiner wird aus dem wachen Leben allen Kindertraum vertreiben wollen, der allein es treibend zu bewegen vermag. Aber die Form, unter welcher der Erwachsene Kindheit legitim mitnimmt, ist einzig die der Erinnerung; nicht die der unverwandelten Fixierung. Das Bild des Kindes im Manne aber, das die Antworten der Damen entwerfen, ist in Wahrheit ein Bild des Infantilen. Infantil ist die Bewunderung, die Erwachsenen gezollt wird, weil sie patente Sextaner sind, die elektrische Leitungen legen und buddeln können, als ob die Menschen nicht seit einiger Zeit die Arbeitsteilung erfunden hätten. Infantil ist die Verherrlichung des Leibes, die, erotisch gründlich neutralisiert, sich auf Gurgeln und Plantschen beschränkt. Was es damit tieferhin auf sich hat, dafür mag die Psychoanalyse zuständig sein. Aber vor aller analytischen Deutung: daß Menschen, die die Möglichkeit haben, baden und sich die Zähne putzen, sollte sich von selbst verstehen. Wird darauf, oder auf den ›gebügelten Anzug‹, Affektives übertragen, so bloß darum, weil es dem realen Menschen entzogen ward, den keine der Antworten auch bloß erreicht. Infantil ist endlich der
neurotische Mechanismus der Dummheit,
der wahllos beim anderen alles Zurückgebliebene, schlecht Unbewußte, stumm Naturbefangene liebenswert macht, sei es, weil die Enquête-Damen selber so angelegt sind, daß Besseres nicht mehr in den Raum ihrer Neigung fällt, sei es, daß es bei ihren Partnern nichts anderes zu lieben gibt: diesen kessen Jungen mit der Querschleife und jenem ›Siegerlächeln‹, das gar nicht so ein klein bißchen brutal, sondern bereit ist, das Spielzeug, in das ihre Welt sich verwandelt hat, im nächsten Augenblick entzweizuschlagen, nachdem der Held eben noch als der Freude Spendende in Aktion trat, bis er endlich gurgelnd im Meer der Dummheit versank.
    Vielleicht tut man den Antworten Unrecht. Alle haben es nicht so gemeint und sind bloß neckisch gewesen. Nur, ihre Neckerei ist ihr Ernst, weil sie keinen Ernst sonst haben. Es ist zu vermuten, daß ihnen nichts anderes übrigbleibt als die Flucht in die Kindheit des anderen: die rationalisierte Wirklichkeit, in der sie leben, läßt ihnen keinen Traum als diesen dürftigen, und wären sie nicht selber so dumm, wie sie es am Gatten lieben, sie hielten es mit ihm nicht aus und auch nicht in einer Welt, die alle Erkenntnis mit wachsendem Leiden für den Erkennenden vergilt. Aber die Festung der Dummheit müßte in ihren infantilen Fundamenten gesprengt werden, wenn diese Welt verändert werden sollte.
     
    1931
     
     

Fütterung der Toten
     
    Das Schicksal der Kinder, denen man in Lübeck an Stelle des helfenden Serums die Bazillen geboten hat, vor welchen das Serum sie hätte schützen sollen, ist mit ihrem Untergang noch nicht versöhnt. Die Sprache, die zu lernen sie im Leben keine Zeit mehr fanden, verweigert ihnen das Mitleid, das von den Menschen ohnehin nicht zu erwarten steht: sie heftet sich an ihre Schatten und schändet sie. Angeklagte, Gericht und Presse scheinen übereinzustimmen in der Selbstverständlichkeit der Aussage, die Säuglinge seien mit dem Calmette-Präparat, dem richtigen oder dem falschen, was liegt schon daran,
gefüttert
worden. Die bestialische Dummheit, die den Mord beging, vermag die sprachlose Klage ihrer Opfer anders nicht zu ertragen, als indem sie die toten Menschenkinder in ihresgleichen verwandelt; in Tiere, die man füttert, um sie zu schlachten. So hat Flaubert die Karthagischen Molochpriester gesehen, wie nun ernste Männer der Wissenschaft sich bewähren: »Jedesmal, wenn man wieder ein Kind darauf legte, streckten die Molochpriester die Hände darüber, um es mit den Sünden des Volkes zu belasten, und schrieen: Es sind keine Menschen, sondern Tiere! Und die Menge ringsum wiederholte: Tiere! Tiere!« Freilich, selbst die Molochpriester, die die Kinder Tiere nannten, hätten sich besonnen, von ihrer Fütterung zu reden, die der Schändung des Menschen noch den Hohn einer Fürsorge hinzufügt, die den Mord, den sie entschuldigen möchte, selber erst hervorbringt. Hätten die Toten ihre Fütterung überlebt, sie wären fraglos einer Organisation zur Aufzucht des Kleinkindes überwiesen worden, die sie ihrerseits an einen Verband zur Pflege zwar nicht der Kinder, aber der Leibesübungen weitergeleitet hätte. Wären sie trotz alledem alt genug geworden, um zu erkennen, womit man sie gefüttert hat, so hätten sie zugleich

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