Gesammelte Werke
klammert sie sich an ihn mit verbissenen Zähnen. Auch noch lächeln.
Ich blickte auf, und sie strich sogleich wieder den Rock herunter: unterdessen hatte sie wohl einmal die Beine übereinander geschlagen. Das ist Hitlers Triumph, dachte ich. Er hat uns nicht nur Land, Sprache und Geld fortgenommen, sondern noch das bißchen Lächeln konfisziert. Die Welt, die er geschaffen hat, wird uns bald so böse machen wie er ist. Die Abwehr des Mädchens und meine Rücksichtslosigkeit sind einander wert. Ich schämte mich, und als sie abermals die Beine kreuzte, wagte ich schon gar nicht mehr hinzuschauen.
Freilich waren wir an meiner Station angelangt und ich stieg rasch aus. Am Stand oben beim verschlafenen Zeitungshändler kaufte ich die Times und suchte nach der Nachricht vom Sieg mit der verzweifelten Begierde, die nur zerstört, woran sie sich hängt. Kein Sieg war darin zu lesen. Traurig, das viel zu schwere Blatt unterm Arm, ging ich den Broadway hinab.
Ca. 1940
Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus
Lesestücke
Die Pendelwagen
Ein berufstätiges junges Mädchen äußerte zu seiner Kollegin: Man hat keine Freude an der Trambahn. Selbst wenn ich morgens fünf Minuten früher wegfahre als notwendig, hilft es wenig. Zwar kann ich dann mit dem schwach besetzten Pendelwagen fahren, anstatt in der überfüllten Haupttram, aber ich komme kaum je früher zum Ziel. Die Pendelwagen haben nämlich die Gewohnheit, nicht, wie vorgesehen, in der Mitte des Zeitraumes zwischen zwei Hauptzügen zu verkehren, sondern unmittelbar vor dem darauffolgenden Hauptzuge abzugehen, weil Führer und Schaffner der Pendelwagen sich mit den Beamten der Hauptzüge an der Abgangsstation unterhalten. So erreiche ich an der Umsteigstelle nicht mehr den fahrplanmäßigen Anschlußwagen, sondern erst den nächsten –. Nicht genug damit, ich komme manchmal durch das lange Warten später an mein Ziel, als wenn ich den nächsten Hauptzug benutzt hätte. Denn er fährt weiter als der Pendelwagen und erreicht dann die zweite größere Umsteigestelle, von der mehrere Verbindungen abzweigen. Von dort ist es wohl in der Luftlinie weiter zum Ziel als von der ersten Umsteigestelle, aber man muß wegen der vielen Linien nie warten.
Sitzung
Es fanden sich nicht alle Herren des Vorstandes ein, nur fünf, weil es nachmittags sechs Uhr war. Sie berieten das Programm für das halbe Jahr. Die Programmgestaltung bot Schwierigkeiten, weil einige Herren des Vorstandes zugleich Vorständen anderer Gesellschaften ähnlicher Art angehörten. Die eine jener Gesellschaften müsse in dieser aufgehen, da sonst ein Wettstreit entstehe, der fruchtbare Arbeit jeder einzelnen unmöglich mache. Gestatten Sie den Hinweis auf unsere Schwestergesellschaft in Hamburg, widersprach ein Herr aus zwei Vorständen. Ihr Halbjahres-Programm ist erheblich umfangreicher als die beiden der heute in Frage stehenden Gesellschaften zusammengenommen, obwohl sie wesentlich jünger ist als beide. Daraus folgt, daß hier bei veränderten Umständen beide Gesellschaften getrost nebeneinander leben können. Das bestreite ich, hieß es dagegen, die Grundlagen sind völlig verschieden. In Hamburg sind die Möglichkeiten bei weitem nicht so erschöpft wie bei uns. Man ist dort viel ursprünglicher. Ein Herr meldete sich. Ich möchte Ihnen einen Vorfall erzählen, der zwar nicht zur Geschäftsordnung, aber immerhin zur Sache gehört. Ein Hamburger, den wir alle kennen, kam mit einem Anderen ins Gespräch: »Ich hatte mir einen neuen Handkoffer gekauft zu einer Zeit, deren schwierige Verhältnisse jede solche Anschaffung zu einem Opfer machten. Eines Tages nahm ich ihn mit auf die Reise. Ich verließ das Abteil für einige Augenblicke. Als ich zurückkehrte, war der Koffer verschwunden. Verzweifelt suchte ich ihn überall ohne Erfolg. Tage danach begab ich mich zur Dienststelle für gefundene Gegenstände. Dort fand ich meinen Koffer wieder. Es war der glücklichste Tag meines Lebens.«
Regent
Das schöngelegene Sommerschloß des verstorbenen Regenten wurde viel besucht. Führungen fanden in Gruppen von je dreißig Personen statt. Die Teilnehmer warteten an der Drehtür. Wenn es dreißig waren, wurden sie eingelassen. Im Treppenhaus waren nur fünf überlebensgroße Statuen sehenswert, die am Aufgang der Freitreppen angeordnet waren. Sie seien allegorische Darstellungen der fünf Erdteile, Europa in der Mitte. Die Figuren seien jetzt Gips, hätten aber Marmor werden sollen. Decken und
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