Gesammelte Werke
an die Hand gegeben: ein gelber, zusammenklappbarer Zollstock, ein großer und ein kleiner Papierblock, Bleistifte. Irgendwie befand sich auch eine Landkarte dabei, doch belehrte mich ein erster Blick darüber, daß sie nicht Rom sondern Paris darstellte. Auf ihr war mit Bleistift ein gleichschenkliges Dreieck eingezeichnet, vaguement mit der Seine als Basis und Montmartre als Scheitel. Ich hatte das Gefühl, das Dreieck sei der Bezirk der Aufgabe. Leu wollte, während ich diese erledigte, die Aufsicht führen, bat mich aber, mich zu sputen, da sie nicht viel Zeit habe. Auf den ersten Blick erschien mir die Aufgabe lächerlich leicht, etwa so, als hätte man, um mir nur ja nichts meine Fähigkeiten und Kenntnisse Übersteigendes zuzumuten, etwas gegeben, das ich durch Fleiß und Akribie unbedingt bewältigen könnte. Ich begab mich sogleich daran, so rational, als wäre ich wach. Da stieß ich auf gewisse Schwierigkeiten. Einmal war es mir nicht klar, ob ich nur den Raum errechnen sollte, den die gedruckte Beschreibung einnahm – so wie es freilich zunächst, beim Stellen der Aufgabe, außer jedem Zweifel schien; oder ob ich, wie es mir vernünftiger dünkte, die Größe des Bezirks selbst errechnen sollte. Doch entschied ich mich, nach dem Grundsatz, mich an den Wortlaut zu halten, vielleicht auch weil mir die Möglichkeit der Alternative gar zu problematisch dünkte, fürs erstere. Das hieß, daß ich mit dem Zollstock ganz genau Höhe und Breite des Gedruckten ausmessen und die Maßzahlen multiplizieren sollte. Ich zweifelte, ob mir das bei meiner Kurzsichtigkeit so exakt gelänge wie verlangt war. Überdies fing das Bezeichnete mitten in einer Zeile an und hörte mitten in einer Zeile auf; ich mußte also die winzig kleinen überschüssigen Räume ausmessen und subtrahieren; das schien mir das Allergefährlichste. Auf dem Titel der Broschüre stand, unter dem Namen des Autors, der mir entging, »Student«, darüber glaubte ich mit Leu sprechen zu dürfen, die ich, nachdem sie mir die Aufgabe einmal erklärt hatte, sonst nichts fragen durfte. »Das hat offenbar ein armer Student gemacht«, sagte ich, als ob das für die Sache ungemein wichtig wäre. »Ja, rührend«, antwortete Leu; wir waren des Einverständnisses froh. Ich las weiter, unter dem »Student«, das Wort »altkatholisch«. Mir fiel ein, daß die Altkatholiken jene Gruppe waren, die sich abgespalten hatte, als Pio Nono die Unfehlbarkeit verkündete. Die Schrift war also antipapistisch und der behandelte Bezirk der vatikanische. Jetzt verstand ich auch die Pariser Karte: Sündenbabel. Das Ganze hatte demnach eine esoterische Bedeutung, deren Dechiffrierung man mir wohl zutraute: wie groß ist die Hölle. Ich verriet Leu etwas von meiner Entdeckung, und sie schien über diesen Schritt vorwärts sehr glücklich. Frohgemut wollte ich daraufhin an die Arbeit gehen. Ich befand mich jetzt in einer überhohen Ruine, vielleicht den Thermen des Caracalla. Mit gesundem Menschenverstand machte ich mich erst an eine grobe Überschlagsrechnung, um in den Maßzahlen nicht mich zu täuschen sondern vorweg zu wissen, welchen Umfang das Ding etwa haben könne. Da wurde ich gestört. Es befand sich da nämlich ein zweiter Kandidat, ein hochberühmter Gelehrter. Er machte sich über mich lustig, und zwar indem er einerseits über die Leichtigkeit der Aufgabe spottete, andererseits mich darauf hinwies, daß sie Fußangeln enthalte, über die ich stolpern müßte. Mich brachte das keineswegs aus der Fassung: er meine es nicht böse, das sei so seine Weise, aber es irritierte mich doch soweit, daß ich darüber aufwachte. Es bedurfte geraumer Zeit, bis ich einsah, daß das ganze ein Traum gewesen war.
Frankfurt, 18. September 1962
Ich hielt ein Exemplar der gedruckten Passagenarbeit von Benjamin in Händen, sei es, daß er sie doch vollendet, sei es, daß ich sie aus den Entwürfen rekonstruiert hatte. Liebevoll las ich darin. Eine Überschrift lautete ›Zweiter Teil‹ oder ›Zweites Kapitel‹. Darunter stand das Motto:
»Welcher Trambahnwagen wäre so frech, zu behaupten, daß er nur um des knirschenden Sandes willen fahre?
Robert August Lange, 1839.«
Frankfurt, Dezember 1964
Die Welt sollte untergehen. Ich befand mich in frühester Morgendämmerung, in grauem Halbdunkel, unter einer größeren Menschenmenge auf einer Art Rampe, am Horizont Hügel. Alles starrte auf den Himmel. Halb im Bewußtsein zu träumen, fragte ich, ob denn nun die
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