Gesammelte Werke
dreißig Jahren einigermaßen stabile Gegensatz von Stadt und Land selber sich zu verflüssigen. Auch darin gleicht eher Europa, aus der Schwerkraft der eigenen Entwicklung heraus, amerikanischen Bedingungen sich an, als daß Amerika dem älteren Kontinent folgte. Wenn es zu den stärksten Eindrücken des europäischen Einwanderers in Amerika gehört, daß es dort das Dorf und selbst die Kleinstadt im überkommenen Sinne nicht gibt, daß auch diese eigentlich den Charakter der kleinen Großstadt besitzt – vor fünfzig Jahren schon hat Werner Sombart darauf hingewiesen –, dann läßt Ähnliches im Ansatz sich heute in Europa beobachten, freilich nicht als die allein maßgebende Tendenz, sondern im dauernden Widerstreit mit den stets noch wirksamen hauswirtschaftlichen Rudimenten.
Die Frage, welcher die Sozialwissenschaft sich gegenübersieht, ist es, ob diese Entwicklung einfach und eindeutig positiv zu beurteilen sei. Zeichnet sich wahrhaft die Überwindung des Gegensatzes von Stadt und Land ab, oder handelt es sich einseitig um eine Expansion des industriellen Urbanismus, als deren Folgen trübe Zwischenphänomene, unproduktive Notstandsgebilde, eine Art Barackenkultur hervortritt? Geht auf dem Lande eine alte Form der Gesellschaft zugrunde, ohne daß eine neue, höhere sie ablöste? Von jeher war der Fortschritt der Urbanisierung mit Unsicherheit, Druck und Armut auf dem Lande erkauft; seit je mußten die zurückgebliebenen Schichten mit dem Spott auch noch den Schaden tragen, daß der Fortschritt auf ihrem Rücken erkämpft wurde. Ob die gegenwärtige Entwicklung der Beziehungen von Stadt und Land im Bann solcher Verstrickung verbleibt oder wirklich darüber hinausweist, dafür hat zumindest die empirische Wissenschaft bis heute kaum zuverlässiges Material beigebracht.
Die Untersuchungen über vier stadtnahe Landgemeinden, ihre ökonomischen und kulturellen Strukturen und ihre Beziehung zum städtischen Zentrum, die einen wesentlichen Teil der Darmstädter Gemeindestudie ausmachen, suchen an einem genau begrenzten, konkreten Gegenstandsbereich einen Beitrag zu dieser Frage zu leisten.
Das gilt ganz besonders für die hier vorgelegte Monographie von Teiwes über die landwirtschaftlichen Nebenerwerbsbetriebe, die, gleich den Pendelwanderern, symptomatisch sind für die gegenwärtige Abschleifung des Gegensatzes von Stadt und Land. Solche Nebenerwerbsbetriebe sind in West- und Süddeutschland weit verbreitet. Es ist ihre ökonomische und soziologische Eigenart, daß, wo immer sie vorkommen, die Existenz einer Familie gleichzeitig auf dem Ertrag des landwirtschaftlichen Eigenbetriebes und auf andersgeartetem, meist ›städtisch‹-industriellem Arbeitseinkommen basiert. Die Literatur hat von den Nebenerwerbsbetrieben längst Kenntnis genommen, allzu oft freilich mit vorgefaßter Meinung, je nach der wechselnden ökonomischen und politischen Situation. So wurden vor zwanzig Jahren unter dem Druck der großen Wirtschaftskrise die Nebenerwerbsbetriebe geradezu als Idealform einer Synthese von Industrie und Bauerntum gefeiert. Die von Nebenerwerbswirtschaften besonders stark durchsetzte württembergische Landschaft pries man als glücklichste Form einer krisenfesten agrarisch-industriellen Struktur. Im äußersten Gegensatz dazu galten die Nebenerwerbsbetriebe der offiziellen Agrarpolitik des Hitlerregimes als unerwünschte ›Zwittergebilde‹. Durchweg läßt sich beobachten, daß, je stärker die Urbanisierungstendenzen in der Realität sich durchsetzten, desto hartnäckiger die Ideologie darauf beharrt, daß ›Bodenverbundenheit‹ auch für die gewerblich Tätigen dem Stadtleben vorzuziehen sei. Hier wie überall bilden irrationalistische Theoreme das Komplement zur real fortschreitenden Rationalisierung. Daran hat sich auch seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht allzuviel geändert.
Solche Ideologien tragen keine geringe Schuld daran, daß die sachliche Kenntnis der sozialen Rolle der Nebenerwerbsbetriebe zu wünschen übrig läßt. Vielfach wird, je nach den Stereotypen, mit denen die Autoren an die Realität herangehen, verallgemeinert. Die dynamischen Elemente des gegenwärtigen ländlichen Lebens werden verkannt oder zumindest unterschätzt; die Idee von der ›Statik‹ des Landes herrscht immer noch vor, und es wird von dem Konservativismus, der das
Bewußtsein
vieler Landleute erfüllt, darauf geschlossen, daß die soziale Wirklichkeit selber, in der sie leben, beharrenden Charakters
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