Gesammelte Werke
autonomem Bewußtsein nicht zu umgehen. Die ländliche Bevölkerung ist sicherlich in noch höherem Maße als die städtische von jenen geistigen Erfahrungen ausgeschlossen, die Bildung voraussetzen. Sowohl der ländliche Traditionalismus wie die kommerzialisierte Kulturindustrie werden gerade bezeichnet durch den Ausschluß des Bildungsmomentes. Damit mag sich teilweise die Neigung großer Sektoren der ländlichen Bevölkerung erklären, bereitwillig dem Gefolgschaft zu leisten, was sich kraft der Autorität der Radiolautsprecher als modern präsentiert. Das spräche für die Hypothese, daß gewisse negative Aspekte der jüngsten Phase der Urbanisierung selber eine Funktion der Rückständigkeit sind.
Die Gefahr, die darin sich abzeichnet, betrifft aber keineswegs bloß ein humanistisches Kulturideal, das in der gegenwärtigen Gesellschaft insgesamt fragwürdig ward. Die ›Ungleichzeitigkeit‹ des ländlichen Bewußtseins samt eben der Neigung, Surrogate des Fortschritts, ideologische Fertigfabrikate anzunehmen, enthält ein politisches Potential, das vollends in Verbindung mit der Flüchtlingssituation und der fortwährenden ökonomischen Unsicherheit der deutschen Landwirtschaft als solcher zu Katastrophen führen kann. Der Nationalsozialismus war möglich nur durch das Zusammentreffen der Wirtschaftskrise mit rückständigem Bewußtsein und jener Propaganda, die nichts anderes ist als die zur äußersten Konsequenz gesteigerte kulturelle Manipulation der Massen. Rückfall in die Barbarei droht durch die Explosion des gesellschaftlich Anachronistischen. So fraglos der Nationalsozialismus und gerade die Blut- und Bodenideologie ein städtisches Produkt und von der Stadt her gesteuert war, so wesentlich war doch für die Diktatur die Resonanz, die Hitler nicht nur im städtischen Kleinbürgertum, sondern auch in der Landbevölkerung fand. Es wäre illusionär, zu glauben, die militärische Niederlage des Dritten Reiches hätte die gesellschaftlichen Voraussetzungen finsterer Gewaltherrschaft beseitigt. In einer offenen Krisensituation können sie aufs neue hervortreten, und ein wie immer auch geartetes totalitäres System könnte erneut die Massen einfangen.
Der wahre Wert der Monographie Grüneisens ist darin zu suchen, daß sie zu Erwägungen solcher Art anregt, ohne daß die Fragestellung selbst es im mindesten auf Politik abgesehen hätte. Man kann daraus Skepsis gegen restaurative Phantasien ebenso wie gegen den Optimismus einer undialektischen Vorstellung vom Fortschritt lernen. Das ist wesentlicher, als daß die Schrift, eine Pionier- und Erstlingsarbeit wie die übrigen Darmstädter Monographien, nicht alle die Fragen löst, die in ihrem eigenen Umkreis sich stellen.
April 1952
Gerhard Teiwes, Der Nebenerwerbslandwirt und seine Familie im Schnittpunkt ländlicher und städtischer Lebensform. Darmstadt 1952. (Gemeindestudie. Monographie 3.)
Unter den Wirkungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hat man, außer der negativen Grundtatsache der Trennung geistiger und körperlicher Arbeit und der positiven der Steigerung der Produktivität, von jeher den Gegensatz von Stadt und Land hervorgehoben. Kaum ist es übertrieben, diesen Gegensatz eines der Wundmale der Gesellschaft zu nennen. Der Zurückgebliebenheit der materiellen und geistigen Formen des Lebens auf dem Land, mit allem, was sie an Gärstoff impliziert, entspricht die extreme Entfremdung, Verdinglichung, Verhärtung der städtischen Existenz. Jede Auffassung, die nur das eine der beiden Momente kritisiert, ist beschränkt: beide gemeinsam bezeugen sinnfällig eine antagonistische Totalität, und beide sind darum wesentlich aufeinander bezogen. Die Forderung nach einer Überwindung jenes Dualismus gehört unabdingbar zur Idee einer menschenwürdigen Gesellschaft.
Seit geraumer Zeit nun läßt eine gewisse Vermittlung der Gegensätze sich erkennen. Wie die großen Städte weniger und weniger scharf sich gegen das Land absetzen und in Typen wie dem der Stadtrandsiedlung Zwischenformen auszubilden beginnen, so dringt im Zeitalter der industriellen Massenproduktion und Massenkultur Städtisches, von Kleidung und Verkehrsmitteln bis zu Bewußtseinsinhalten, stärker stets auf dem Lande vor. Ist ohnehin das Dorf in keiner Weise jenes geschichtslose, gleichsam urtümliche soziale Gebilde, als welches es die Romantik dachte; hat die bürgerliche Urbanisierung es längst vielfältig berührt, so scheint heute der immerhin noch bis vor
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