Gesammelte Werke
zurückweisen, fällt zugleich der Stand der menschlichen Produktivkräfte und des menschlichen Bewußtseins selbst als wesentliches ökonomisches Moment in die Waagschale. In einer Situation, in der die deutsche Landwirtschaft vermutlich überhaupt nur lebensfähig ist, wenn sie zu unvergleichlich viel einschneidenderen Neuerungen sich entschließt als bisher, tangiert die Einsicht in die Ungleichzeitigkeit technischer und menschlicher Entwicklung die elementaren Fragen der wirtschaftlichen Selbsterhaltung des gesamten Agrarsektors. All das kompliziert sich durch die Rolle des heute sehr anwachsenden, nicht oder nur bedingt landwirtschaftlichen Teils der Dorfbewohner, insbesondere der Flüchtlinge.
Grüneisens Monographie setzt die ökonomischen Gegebenheiten voraus, die in den Beiträgen von Kötter und Teiwes erörtert sind: die trotz vorübergehenden Prosperitätsphasen dauernd prekäre Existenz der deutschen Landwirtschaft. Aber er mißt dem falschen Bewußtsein ein wesentliches Maß an Schuld zu. Daraus darf die Lehre gezogen werden, daß das Problem der Agrarreform von der Änderung des Bewußtseins nicht abgetrennt werden kann. Es handelt sich dabei um Pädagogik im weitesten Sinne: darum, die auf dem Lande Lebenden dazu zu befähigen, der Einsicht wie der psychologischen Struktur nach dem gegenwärtigen geschichtlichen Stand sich gewachsen zu zeigen. Daß in einer Gruppe, die seit Jahrhunderten zäh ihre Interessen wahrnimmt, genug Eigenschaften sich finden, an die solche Versuche anknüpfen könnten, läßt sich kaum bezweifeln. Wenn, was in dieser Richtung bislang unternommen wurde, es kaum über sogenannte Teilerfolge hinausbrachte, so sind dafür eher halbe und oberflächliche Maßnahmen als die Landleute selber verantwortlich. Manche Kreise verharren immer noch dabei, daß bäuerliches Brauchtum und hergebrachte Sitte der Vermassung widerstanden hätten und vor dem Verhängnis des modernen Bewußtseins behütet werden müßten. Solche Argumente, deren manche auf die deutsche Romantik zurückdatieren, haben durch den Nationalsozialismus jegliche Unschuld verloren. Auch diejenigen sollten sie meiden, die mit dessen politischer Doktrin nichts gemein haben und einzig vom Wunsch geleitet werden, zu verhindern, daß weiterhin die Landbevölkerung den Fortschritt bloß als Leidende erfährt.
Niemand meint es heute mehr mit den Landwirten gut, der sie vom geistigen Fortschritt fernhält und ihnen kulturelle Naturschutzparks empfiehlt. Geholfen wird ihnen erst, sobald sie der eigenen Beschaffenheit nach nicht länger zu blinden Objekten gesellschaftlicher Macht taugen. Unter den Verdiensten von Grüneisens Arbeit ist nicht das letzte, daß er den Nachweis führt, in wie weitem Maße der Glaube an die traditionelle Kultursubstanz des Dorfes zum bloßen Aberglauben ward; daß, wer heute noch die Vätersitten befürwortet und einen Kult mit dem ›hofzentrierten‹ Denken treibt, dabei in Wahrheit den Hofbesitzer schlecht berät. Die ruhig abwägenden, von blinder Neuerungswut freien, aber in ihren Zahlen und Analysen um so zwingenderen Darlegungen Grüneisens lassen erkennen, wie dringlich eine durchgreifende Schul- und Erziehungsreform auf dem Lande geworden ist.
Dabei geht es keineswegs um subtile Nuancen der Kultiviertheit, sondern um das Allerhandgreiflichste: ob, in welchem Maße und in welchem Sinne die Landbevölkerung intellektuell und psychologisch ›mitgekommen‹ ist. Die drastische Frage hat Grüneisen mit einem drastischen Instrument behandelt: der Zweiteilung in ›modern‹ und ›konservativ‹ gesinnte Bewohner der vier stadtnahen Landgemeinden. Daß er dabei simplifizierte, hat er nicht verkannt. Jeder der beiden Begriffe ist voll von einander widersprechenden Implikationen. Es sei nur daran erinnert, daß die von Gordon Allport unter dem Namen personae-Phänomen beschriebenen Beobachtungen auf das Problem des ›Modernen‹ anzuwenden sind: zahlreiche Menschen vertreten technologisch den fortschrittlichsten Standpunkt, politisch und kulturell jedoch autoritäre und kraß reaktionäre Prinzipien. Weiter lassen etwa Konservativismus und moralischer Rigorismus von der gesellschaftlichen Theorie keineswegs ohne weiteres einander so sich gleichsetzen, wie es in der von der Monographie angewandten Skala geschieht. Das feudale Denken hat die bürgerlich-puritanischen Forderungen niemals ganz sich zu eigen gemacht, und man weiß genug von Konservativen, die, gerade weil sie der eigenen Tradition und
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