Gesammelte Werke
des eigenen Privilegs in der Gesellschaft sich unbedingt sicher wissen, sich selbst und anderen um so mehr Freiheit des Privatlebens zugestehen. Freilich sind in der gegenwärtigen Krisis der Gesellschaft die spezifisch bürgerlichen Existenzformen selber in der Defensive, und wer sie vertritt, fühlt sich bereits als konservativ, während die feudalen Residuen liquidiert werden.
Auf all das hat Grüneisen sich nicht eingelassen und die Begriffe modern und konservativ etwa so gebraucht, wie sie im Bewußtsein der Landleute selber vorkommen mögen, wenn diese von ›altmodisch‹ und ›neumodisch‹ reden. Dabei ist es ihm gelungen, Symptome psychologischer Urbanisierung ebenso zu zeigen wie deren Widerspruch zu den hauswirtschaftlichen Bewußtseinsformen, die im deutschen Dorf immer noch sich halten. Deutlich zeichnen die wahren gesellschaftlichen Antagonismen auf dem Lande sich ab.
Die Berechtigung des Verfahrens ist dadurch unter Beweis gestellt, daß die Antworten auf die einzelnen Fragen, die im zweiwertigen Schema Konservativ-Modern rubriziert werden, sich untereinander, und zwar gerade in dem sogenannten Hinterland-Sample, als konsistent erweisen. Andererseits erheischte selbstverständlich eine adäquate Analyse von Ideologie und Psychologie der Landbevölkerung differenziertere Methoden als die jener beiden Fragebogen, des der Hinterlandstudie und des auf ›öffentliche Meinung‹ abzielenden, an deren Auswertung Grüneisen gebunden war. Er hat versucht, diesem Mangel soweit abzuhelfen, wie das Material es überhaupt zuließ, indem er detaillierte Interviews typischer Individuen sozialer Gruppen aus den vier Dörfern heranzog, die er nach ihrem Grad von ›Verstädterung› unterschied. Selbst innerhalb der engen Grenzen, die durch die Daten vorweg gezogen waren, sind ihm fruchtbare Einsichten in den ländlichen Umschichtungsprozeß zugefallen. Es springt aus der Studie heraus, wie kein Bewohner jener Dörfer unberührt bleibt vom städtischen Kraftfeld; wie ein jeder entweder dessen Einfluß nachgibt oder ihm opponiert, wie es aber keinem möglich ist, fern von jener Tendenz ein sich selbst genügendes Leben weiterzuführen. Manche verharren, mit variierender äußerer und innerer Sicherheit, im Traditionell-Dörflichen, andere – vielleicht eine heute besonders charakteristische Gruppe – lassen sich von den Strömungen passiv treiben; andere schließlich machen die Sache des städtischen Fortschritts bewußt zu ihrer eigenen. Darüber hinaus enthüllen sich aufschlußreiche Beziehungen zwischen den subjektiven Reaktionsformen der Menschen und objektiven Gegebenheiten, wie Herkunft, Erziehung, Beruf, Eigentumsverhältnisse und soziale Stellung.
Man könnte fragen, ob nun tatsächlich die Landbevölkerung in ›moderne‹, teils von liberalen Vorstellungen, teils auch bereits von der zentralisierten Kulturindustrie bestimmte Personen, und in ›konservative‹, hauswirtschaftlich orientierte, dem Fortschritt abgeneigte Traditionalisten zerfalle. Die Aufgabe weiterer Analyse dieser Kategorien wäre von zukünftiger agrarsoziologischer Arbeit zu leisten. Doch mag immerhin ein Problem angedeutet sein, das durch die Ergebnisse der Monographie nahegelegt wird. Niemand, der mit dem Land vertraut ist, kann sich bei der Lektüre des Eindrucks erwehren, daß ohne Übergang hauswirtschaftlicher Traditionalismus und hochkonzentrierter Spätindustrialismus als Determinanten des ländlichen Bewußtseins aufeinander prallen. Es sieht aus, als fehle diesem Bewußtsein das charakteristisch bürgerliche, individualistische Element geistiger Unabhängigkeit und Resistenzkraft. Man kann sich des Verdachtes nicht entschlagen, auf dem Lande stünde einzig die Welt des Gesangbuches und die der Radiooperette zur Wahl. Wenn man bei der Auswertung des Fragebogens, um überhaupt relevante Zahlen in die Hand zu bekommen, auf der einen Seite die Bibelleser und auf der anderen die der »Wahren Geschichten« und ähnlicher Stapelware eintragen mußte, so wird ein solcher Verdacht bestärkt. Gewiß sollte man dergleichen Beobachtungen nicht voreilig vertrauen. Auch in der Stadt scheint der Widerstand der Bevölkerung gegen die Kulturindustrie, obwohl doch andere Möglichkeiten offen sind, erstaunlich gering. Zudem ist damit zu rechnen, daß die Vergröberung durch quantitative Methoden jene Alternative dem Material aufnötigt, während für das Abweichende kein Raum bleibt. Trotzdem ist zumindest die Frage nach der Absenz von
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