Gesammelte Werke
ist es, wie wenig unmittelbare Äußerungen über physische Schulverhältnisse – also vorab die Zerstörungen – vorliegen. Die Kinder neigen dazu, alles Institutionelle der Schule als gegeben und unabänderlich hinzunehmen und nur zum Lebendigen, zu den Menschen, in positiv oder negativ affektbesetzte Beziehungen zu treten. Dagegen spielt die Ordnung und Regelmäßigkeit des Unterrichts, alles, worin die Schule noch etwas von dem Charakter des Hegenden, Schützenden sich bewahrt, eine große Rolle.
Solche, aufs Geratewohl herausgegriffene Beobachtungen sollen nur eben darauf hinweisen, wie fruchtbar und wie human Untersuchungen geraten können, die an einer so genau umgrenzten Thematik orientiert sind und so streng wissenschaftlicher Disziplin sich unterwerfen wie die von Irma Kuhr. Es bedarf keines Wortes, daß, gleich den anderen Darmstädter Monographien, auch diese, aus Gründen, die im Text selber freimütig klargelegt werden, eine »Pilotstudie« ist. Daß es sich dabei um wirkliche Pionierarbeit in bisher kaum bearbeiteten und fürs Leben der einzelnen wie der Gesellschaft höchst relevanten Gegenstandsbereichen handelt, wird jeder Leser bestätigt finden.
Zur Ergänzung der Kuhrschen Studie ward in den Band die Monographie von Giselheid
Koepnick
über eine Abiturientinnenklasse mitaufgenommen; ein Versuch, den filtrierten wissenschaftlichen Ergebnissen primäres Material, unmittelbare Erfahrungen und Beobachtungen aus einer Darmstädter höheren Schule hinzuzufügen. Als Fräulein Koepnick mit der Abfassung der Monographie betraut wurde, hatte sie selbst gerade das Abitur bestanden. Ohne irgendwelche Ansprüche auf sozialwissenschaftliche Ausbildung zu erheben, verfügte sie dafür über frische Eindrücke aus eben dem Bereich, dem die Kuhrsche Untersuchung gilt. Indem sie ihre Beobachtungen organisierte, hat sie sich bemüht, den Umkreis ihrer individuellen Erfahrung zu erweitern. Anregung bot der bekannte amerikanische guess who oder reputation test, bei dem jedes Kind einer Gruppe aufgefordert wird, über alle anderen Mitglieder der Gruppe detaillierte Fragen zu beantworten. Die Konfrontation der Antworten soll das Bild der einzelnen und ihrer Beziehungen bereichern und objektivieren. Während der Test in seiner strikten Form nicht gegeben werden konnte, nachdem die Klasse zerstreut war, wurde jede einzelne Abiturientin gebeten, in einem freien Aufsatz ihre Meinung über alle ihre Klassenkameradinnen zu sagen. Dieser Einladung sind die jungen Mädchen, mit zwei Ausnahmen, gefolgt. Das gewonnene Material ist in vieler Hinsicht anregend. Hingewiesen sei auf die strikte Zweigliederung der Klasse in Gruppen mit einander scharf entgegengesetzten Ich-idealen, auf mancherlei Einsichten in die in einer Schulklasse wirksamen Normsysteme und auf die Strukturanalyse typischer Freundschaften. Die Monographie hält die Mitte zwischen Reportage und sozialwissenschaftlicher Verarbeitung. Auf jeden Fall bietet sie Elemente der Deskription zwischenmenschlicher Beziehungen innerhalb des bestimmt vorgezeichneten institutionellen Zusammenhangs einer Oberprima. Verglichen mit den Schriften von Kuhr und Baumert, die sich den Lebensverhältnissen der Jugend extensiv widmen, besitzt die Monographie von Fräulein Koepnick den Charakter einer mit in Deutschland ungewohnten Methoden durchgeführten case study zur Gruppensoziologie. Fast ganz auf psychologische Deutungen verzichtend und statt dessen sozialen Konfigurationen zugewandt, gemahnt sie an den Wieseschen Begriff der »Beziehungslehre« im engeren Sinne.
Der einfache Bericht wirft Probleme auf, die weiterverfolgt zu werden verdienten. Das wichtigste ist das jener beiden ›Cliquen‹. Auf der einen Seite steht die traditionell-bürgerliche der ›höheren Töchter‹, die andere hängt dem Bild eines Lebensstils nach, dem wohl die Vorstellung vom college girl, wie sie einmal im Text erwähnt wird, am nächsten kommt. Freilich ist zu bezweifeln, ob die Mädchen der ›weltlichen‹ Clique tatsächlich so oppositionell und nicht-konformistisch sind, wie sie sich selbst, im Verhältnis zur elterlichen und zur Schulautorität, erfahren. Es ist Grund zur Annahme, daß sie ihrerseits nach einem allerdings in Deutschland noch nicht ganz artikulierten, in Amerika aber sehr deutlichen Normensystem sich richten: dem der Teenagers. Leicht genug könnte der Individualismus, dessen die Mitglieder dieser Clique sich bewußt sind, bloß die Bereitschaft verbergen, Standards zu
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