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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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sozialen ›Feld‹ vor. Wichtig ist jedenfalls auch der Anteil der Frauen an der materiellen Versorgung der Familie. Je mehr sie zu dieser als selbständige, vom Mann unabhängige Wirtschaftssubjekte beitragen, desto mehr schrumpft die Basis ihrer traditionellen Einordnung in die patriarchal orientierte Familie.
    Ansätze zu einer Festigung der Familienstruktur mag man in neuen Bindungen erblicken, welche vielleicht die Funktion der alten übernehmen: der auf Freiheit, Einsicht und Neigung beruhenden Solidarität von Partnern gleichen Ranges. Doch beurteilt die Monographie dies Potential gegenüber dem entgegengesetzten, zumindest für die nächste Zukunft, sehr vorsichtig. Zwar schwindet die väterliche Autorität mit ihrem wirtschaftlichen Fundament; trotzdem aber hat sich der gleiche Rang der Familienangehörigen keineswegs hergestellt. Das trägt nicht wenig zur Orientierung der Kinder und Adoleszenten an anderen, nun meist kollektiven Autoritäten wie Partei und Staat bei; einer Bereitschaft, die ebenso vom Hitlerschen Reich gefördert wurde, wie es von ihr zehrte. Die Prognose ist eher die einer Lockerung der Familie zum Positiven oder Negativen als die, daß die gegenwärtige soziale Desintegration, Kehrseite aller Integration, an der Stabilität der Familie ihre Grenze finde.
    Die von manchen Soziologen vertretene Hoffnung, daß die Mehrzahl der westdeutschen Familien durch den Umwandlungsprozeß intakt hindurchgegangen wäre und sich gleichsam als ›krisenfest‹ erwiesen hätte, wird von den Ergebnissen der Studie nicht bestätigt. Ebensowenig läßt das in der Monographie interpretierte Material die Folgerung zu, mit der väterlichen Autorität verschwände zugleich die autoritätsgebundene seelische Disposition. Die Theorie Freuds, der zufolge die paternalistische Autorität auf sekundäre Gruppen übertragen werden kann, scheint auch in dem geschichtlichen Sinne sich zu bewahrheiten, daß solchen Kollektiven zweiter Ordnung die Rolle der primären zufällt, wenn diese nicht länger mehr als entscheidende Agentur der sozialen Kontrolle fungieren. Gewiß mag in temporären Situationen wie der nach dem Bombenangriff auf Darmstadt und in der zahlreicher Flüchtlinge die Familie noch einmal jene umhegende Kraft bewähren, die ihr vordem zukam. Aber es handelt sich dabei eher um ein Regressionsphänomen, um die verzweifelte Flucht in die Kindheit, als um den Triumph eines Unzerstörbaren: so wie nach dem Kriege in Deutschland allenthalben Regressionen – man denke bloß an die überwertige Bedeutung des Essens längst nach der Hungerperiode – zutage traten. Wer von der Familie als Notgemeinschaft, dem Schutzsuchen der Menschen im engsten Verband angesichts der totalen physischen Bedrohung, etwas wie eine Regeneration der Gesellschaft sich verspräche, der verfiele wohl demselben Fehler wie jemand, der von der »foxhole religion«, der Anrufung Gottes in Lebensgefahr, eine religiöse Renaissance erwartete. Auf kurze Frist mag der Anschein entstehen, daß traditionale gesellschaftliche Formen den Anprall der Katastrophe unerschüttert überdauern. Über längere Zeiträume jedoch wirken gesellschaftliche Naturkatastrophen von der Art der Bombenangriffe, die mit dem spontanen Willen der Menschen nichts zu tun haben, in der gleichen Richtung wie die Tendenz, welche über den Köpfen der Menschen sich durchsetzt. Zwar werden Ehe und Familie als Institutionen durchwegs noch bejaht. Die Anpassung an die sich verändernden gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse beginnt aber die überkommenen Vorstellungen auszuhöhlen. Die vorherrschenden Ansichten etwa über Ehescheidung, außereheliche Mutterschaft, illegitimes Zusammenleben, gehorchen immer weniger der Forderung, es gelte vorab, den Ruf der Familie zu wahren. Was einmal als ›soziales Denken‹ progressiven Intellektuellen vorbehalten war, ergreift unterm materiellen Zwang das Bewußtsein der Bevölkerung, und der Nebel vor ökonomischen Notwendigkeiten zergeht.
    Die Möglichkeit, solche Resultate über Darmstadt und die vier Hinterlandgemeinden hinaus zu verallgemeinern, mag nach statistischen Kriterien beschränkt sein. Kaum jedoch kann die Fragestellung einer verantwortlichen Repräsentativerhebung über die Problematik der Familie im gegenwärtigen Deutschland an der Monographie vorbeigehen.
     
    Ostern 1954
     
     
    Klaus A. Lindemann, Behörde und Bürger. Das Verhältnis zwischen Verwaltung und Bevölkerung in einer deutschen Mittelstadt.

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