Gesammelte Werke
akzeptieren, von denen sie erwarten, daß ein vag sich abzeichnendes Kollektiv der Jugendlichen sie billigen werde. Längst hat in den Schulklassen eine doppelte Hierarchie gegolten: die offizielle, von der Schule gesetzte, und die gleichsam unterirdische, unter den Jugendlichen selbst wirksame. Die Nationalsozialisten hatten diesen latenten Gegensatz geschickt ausgebeutet. Mit der Lockerung der herkömmlichen Autoritätsformen scheint das inoffizielle Normensystem allgemein offener hervorzutreten. Die Jugendlichen, die ihm anhängen, konformieren durch Non-Konformismus.
Sinnvoll wäre es, die unter den Adoleszenten geltenden Normen zu analysieren. Viele Worte, die sie verwenden – »mondän«, »schick«, »arrogant«, »egoistisch« – haben eine spezifische Tönung, die zuweilen von der objektiven Bedeutung jener Worte beträchtlich abweicht. Durch ihre burschikose Verwendung bestätigen die Jugendlichen sich selbst als dazugehörig. Man darf vermuten, daß etwa der Ausdruck »arrogant« in dieser Backfischsprache nicht sowohl Überheblichkeit meint als jede Regung von Unabhängigkeit dem Korpsgeist gegenüber. Solche Regungen äußern sich bei jungen Menschen, die ihr Potential fühlen, längst ehe es aktualisiert ist, oft genug mit einer gewissen Gewaltsamkeit, die abzuurteilen das Kollektiv leichtes Spiel hat.
Die Koepnicksche Monographie bietet in aller Unbefangenheit Stoff für derlei Reflexionen. Kaum bedarf es eines Wortes, daß die Konflikte der adoleszenten Normsysteme etwas über die Spannungen innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung besagen.
Mai 1952
Gerhard Baumert unter Mitwirkung von Edith Hünniger, Deutsche Familien nach dem Kriege. Darmstadt 1954. (Gemeindestudie. Monographie 5.)
Die Jugendmonographien der Darmstädter Gemeindestudie wollten das Verhältnis von unmittelbar einwirkenden objektiv-gesellschaftlichen Mächten und subjektiven Reaktionsformen konkret analysieren. Unter den institutionellen Mächten aber, unter denen die Menschen heute stehen, ist die Familie, als eine der wenigen noch existenten ›primären Gruppen‹, an sich von größter Bedeutung für das Verständnis jener wechselfältigen Beziehung. Darüber hinaus ist dringend danach zu fragen, welche Rolle die Familie tatsächlich noch spielt, welche gegenständlichen und psychologischen Strukturen sie aufweist, welcher Dynamik sie unterworfen ist, und ob sie in solcher Dynamik sich erhält oder zergeht. Unverantwortlich wäre es gewesen, hätte die Darmstädter Untersuchung nicht versucht, zur überaus aktuellen Soziologie der zeitgenössischen Familie das Ihre beizutragen.
Das Verhältnis ihrer in weit gespannten Zusammenhängen gewonnenen Ergebnisse zu denen anderer, rein familiensoziologisch gerichteter Erhebungen, vor allem aber zu einigen heute in Deutschland sehr verbreiteten Thesen über die Rolle der Familie, sichert der Untersuchung besondere Aufmerksamkeit. Während für den allgemeinen Ansatz gilt, was über das Gesamtprojekt in den Einführungen zu den Jugendmonographien dargelegt wurde, ist es angezeigt, auf einige der wichtigsten Resultate der letzten Studie und deren Stellung in der wissenschaftlichen Kontroverse kurz einzugehen.
Zentrum der Arbeit ist die Frage, was der Familie unter radikal veränderten physischen Verhältnissen – in einer durch Luftbombardement aufs schwerste geschädigten Mittelstadt – widerfährt. Doch wurden abermals die vier Hinterlandsdörfer mitbehandelt, getreu dem Prinzip, demzufolge städtisches Zentrum und ›stadtnahe Umgebung‹ als funktionelle Einheit zu denken sind. Die Veränderung der Familie ebenso wie ihre soziale Resistenzkraft stehen zur Erörterung. Stimmt, was an der Nachkriegsfamilie des geographischen Bereichs von Darmstadt sich ausmachen läßt, mit der modernen Familienentwicklung auf weitere Sicht überein, oder hat die Katastrophe familiale Kräfte entbunden, die jener Entwicklung entgegenwirken? Vielleicht ist es das wesentlichste Ergebnis, daß der ›trend‹ der Darmstädter Familie sich dem allgemeinen überraschend einfügt. Die wiederholt formulierte und in den verschiedensten Sphären zutreffende These, daß extreme Situationen gesellschaftliche Gesamttendenzen verstärken, daß gleichsam von außen mit einem Schlag durchgesetzt wird, was von innen langsam sich bildet, findet sich durch zahlreiche Einzelresultate der Studie aufs neue bestätigt, obwohl in manchen Sektoren die langfristige Entwicklung erst allmählich
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