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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Ohne daß die Rezeptivität der Masse für derlei Reize verkannt würde, ist doch zugleich auch ihr Maß an Schuld relativiert: die nach Opfern schreien, offenbaren sich als Opfer selber, als von der politischen Macht hin- und hergeschobene Schachfiguren. Der Antisemitismus hat seine Basis in objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie im Bewußtsein und Unbewußtsein der Massen. Aber er aktualisiert sich als Mittel der Politik: als eines der Integration auseinanderweisender Gruppeninteressen; als die kürzeste und ungefährlichste Art, von einer Lebensnot abzulenken, zu deren Beseitigung andere Mittel verfügbar wären.
    Massing bleibt nicht bei dieser generellen These stehen; er behauptet sie nicht einmal. Aber an dem Material, das er in minutiöser soziologischer und historischer Arbeit zusammengebracht hat, leuchtet sie ein. Besonnene wissenschaftliche Objektivität läßt hinter sich, was irgend die polemische Phantasie auszumalen vermöchte.
    Ganz besonderer Dank gebührt Dr. Felix J. Weil, dem treuen Freund des Instituts, dem es sein Dasein verdankt. Er hat nicht nur Massings Text ins Deutsche übersetzt, sondern unermüdlich an der Vorbereitung der Publikation mitgewirkt.
     
    Sommer 1959
     
     
Fußnoten
    *
Von Max Horkheimer und Adorno unterzeichnet.
     
     
    Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Frankfurt a.M. 1962. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 11.)
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    Alfred Schmidts Arbeit gibt sich als ein Stück Marx-Philologie. Aus den verschiedenen Lebensperioden des Autors des Kapitals werden die Stellen aufgesucht und interpretiert, die sich auf den Begriff Natur beziehen. Soweit wir sehen können, gab es bisher keine gründliche, dem Stand der Problematik angemessene Darstellung des Naturbegriffs bei Marx. Um sie zu leisten, war es aber nicht genug, die Stellen zu sammeln, in denen von Natur gesprochen wird. Auch wo Natur nicht Thema ist, in den Theorien über Arbeit, Wert und Ware, sind Konzeptionen von Natur impliziert. Deshalb werden durch die verantwortliche Darstellung des Naturbegriffs auch andere Partien der Theorie erhellt. Die Version etwa, daß zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik ein radikaler Gegensatz bestehe, wird von Schmidt zurechtgerückt und damit auch das oft zitierte Marxsche Wort, daß sein Verfahren mit der Dialektik bloß kokettiere.
    Indem der Verfasser für sein Thema bisher kaum herangezogene Texte, etwa die als »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« 1953 publizierten Marxschen Vorarbeiten, im Hinblick auf den Naturbegriff durchgeht, wird der Marxsche Materialismus näher bestimmt. Die Auflösung aller Realität in bloße Natur, in atomare Partikel, oder was nach dem Stand der Wissenschaft jeweils als letzte Komponenten gilt, ist selbst keineswegs unbedingt. Nicht unähnlich der Kantischen Lehre, daß alle Erkenntnis auf die Leistung ordnender Funktionen des Subjekts zurückgeht, hängt sie bei Marx mit menschlicher, freilich realer gesellschaftlicher Arbeit zusammen. Damit ist der Naturbegriff des physikalischen Materialismus relativiert. Ihn absolut zu setzen, wäre ›vulgär‹. Die quantifizierende Vorstellung von Natur, wie sie in Laboratorien heute herrschen muß, kann nicht unmittelbar dieselbe sein wie der Naturbegriff einer nicht mehr in sich gespaltenen, in Natur nicht durchaus mehr verstrickten Menschheit.
    Mit dem vulgär-materialistischen verschwindet auch das pragmatistische Mißverständnis der Marxschen Lehre. So wenig wie ein anderer Philosoph hat Marx je gefordert, daß die Gestalt des Gedankens der Praxis sich anmessen solle, auf Kosten der Wahrheit nach praktischen Erfordernissen zuzuschneiden sei. Über Gelehrte, die einem praktischen thema probandum, irgendeinem Effekt zuliebe, von ihrer Erkenntnis etwas sich abhandeln lassen, hat Marx verächtlich geredet: er hat sie Lumpen genannt. Politische Marx-Studien pflegen im Osten der inneren Gleichschaltung, der Ausrichtung der Jugend, der Mission in fremden Ländern zu dienen, die der Kolonisation den Weg bereitet; im Westen nicht selten der Defensive gegen das neue aggressive Evangelium. Allzu oft wirkt äußere Rücksicht selbst im Westen auf die Behandlung des Themas, ja darauf zurück, daß man sich überhaupt mit ihm beschäftigt. Durch die bescheidene philologische Fragestellung hat Schmidt solcher Versuchung sich entzogen. Mit der Entfaltung des zentralen Begriffs, den die Arbeit zum Gegenstand hat, treten andere als die

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