Gesammelte Werke
gegenwärtigen Zeitalters voll erblühte, Metaphysik und Spekulation verfolgt. Aber die Welt, der sie gegenüber sich fanden, ebenso wie die Position, die beide objektiv, und motiviert, in den gesellschaftlichen Kämpfen bezogen, haben sie zu Lehren gebracht, deren Inhalt zuweilen überraschend sich ähnelt. Beide sprachen fürs Bürgertum; Comte für eines, das bereits gesiegt hatte und zur Apologetik überging; Hegel für ein noch ohnmächtiges und politisch gegängeltes. Die Kraft seiner Konzeption drängte ebenso über den beschränkten Zustand hinaus, wie die reale Schwäche derer, die er vertrat, Halt suchte bei der etablierten, bürokratisch-halbabsolutistischen Ordnung. Aber beide waren bereits mit den sprengenden Tendenzen konfrontiert, welche sogleich die neue Ordnung bedrohten. Comte hatte bereits mit dem Proletariat und mit frühsozialistischen Theorien zu rechnen. In Hegels Deutschland waren sozialistische Tendenzen erst diesseits des entfalteten Klassengegensatzes, und darum in romantischer Gestalt erkennbar, etwa an Fichtes Staatslehre; um so leichter fiel es ihm, mit Hilfe der progressiven liberalen Nationalökonomie, sie zu denunzieren. Er sowohl wie Comte jedoch sahen sich vor der Aufgabe, die bürgerliche Dynamik, als eine der Befreiung der Produktivkräfte, zu fördern und gleichwohl, mit einem von Hegel gelegentlich verwendeten Ausdruck, als über sich hinaustreibende einzuschränken. Ihnen bangte vor dem Schreckbild einer Anarchie, das seitdem mehr den Bedürfnissen solider Herrschaft zugute kam als wahrhafter und stets gefährdeter Demokratie. Der geschichtlich-ökonomische Zwang in der Klassenlage war stärker als die sei's noch so unversöhnlichen philosophischen Differenzen, und verhielt sie zur Einheit wider Willen. Was bei Hegel Staat und Staatsgesinnung unmittelbar, soll bei Comte die staatlich institutionalisierte Wissenschaft, zuoberst die Soziologie leisten. Leicht war es, das Unzulängliche beider Rezepte zu bemängeln. Je mehr aber die Dynamik der Gesellschaft jenes Potential eines Besseren versäumte, das über das Rezept hinausgeführt hätte, desto mehr Gewicht gewinnen geistige Erfahrungen aus der Frühzeit des Prozesses, in denen sein späterer Verlauf vorweggenommen scheint. Hegel wie Comte haben, in jeglichem Betracht, die dialektische Verschränkung von Fortschritt und Reaktion ausgedrückt.
Das Buch von Negt hat das Verdienst, die vergleichende Analyse der Hegelschen und Comteschen Lehre von der Gesellschaft differenziert durchzuführen. Dabei ergibt sich viel von der gängigen Meinung Abweichendes. Damals schon ging die Gleichung nicht auf, welche den Positivismus auf die Seite emphatischen Fortschritts und die spekulative Philosophie auf die ideologische nimmt. Wie sehr auch die Hegelsche Rechtsphilosophie, deren pathetischer Staatskult ihm die bedenklichsten Sympathien und den bedenkenlosesten Haß eintrug, die Zustände seines in der industriellen Entwicklung zurückgebliebenen Landes reflektiert – seine Lehre von der Gesellschaft kennt zwar die Dialektik von Reichtum und Verelendung, aber als deren Opfer nur den Pauper –, das spekulative Element verleiht ihr doch kritische Freiheit gegenüber dem, was ist. Comte jedoch erkor die Anpassung an Bestehendes von Anbeginn zur Maxime und empfand den nicht willfährigen Geist einzig als Störenfried. Andererseits erweist sich gerade in der Hegelschen Konstruktion der sozialen Gegebenheiten als eines Sinnvollen ein latenter Positivismus, von dem seine positivistischen Feinde nichts ahnen. Die Bedeutung von Negts Buch liegt nicht zuletzt in solchen Perspektiven.
Parallelen wie Kontraste zwischen Hegel und Comte sind so auffällig, daß es erstaunlich ist, wie wenig die soziologische Wissenschaft bis heute damit sich einließ. Eine Ausnahme dürfte lediglich die Abhandlung »Comte ou Hegel« von Gottfried Salomon-Delatour bilden, publiziert in der Revue positiviste internationale, Paris 1935/36. Professor Salomon hat Oskar Negt während der Arbeit aufs freundlichste beraten; ihm galt auch unser Dank.
Sommer 1963
Fußnoten
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Von Max Horkheimer und Adorno unterzeichnet.
Heribert Adam, Studentenschaft und Hochschule. Möglichkeiten und Grenzen studentischer Politik. Frankfurt a.M. 1965. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 17.)
Das Forschungsprojekt, für dessen Durchführung Heribert Adam verantwortlich war und über das er nun berichtet, wurde in einer Vorstandssitzung des Instituts für
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