Gesammelte Werke
über Schönberg zu schreiben. Heuss las ihn selbst und stieß sich an dem Gebrauch, den ich darin, scheuend, allzu Bekanntes zu wiederholen, vom Begriff der Zwölftontechnik machte. Aber er gehorchte nicht den für viele ominösen Vorstellungen, die sich an jene Technik anschließen, wollte nicht unterdrücken, daß der Begriff Zwölftontechnik behandelt werde, sondern insistierte, im Geist eines nüchternen aufklärerischen Volkserziehers, daß ich das Gemeinte soweit verdeutlichte, bis auch der fachmusikalisch nicht Unterrichtete verstehen mußte, worum es ging. Selten in meinem Leben habe ich Änderungen an einer Arbeit mit soviel Freude und so überzeugt durchgeführt wie die von ihm angeregten, die nicht aus Obskurantismus kamen, sondern aus humaner Solidarität. In einer Situation, in der, unter der Hand, der Begriff des Intellektuellen aufs neue diffamiert zu werden beginnt, ist die Unbefangenheit, mit der Heuss als Bundespräsident der ganzen Haltung nach Professor blieb, und nicht im mindesten die Rancune scheute, die das auslösen könnte – in einer solchen Situation wie der gegenwärtigen ist die Zivilcourage zum Intellektuellentum etwas wie eine moralische Verpflichtung. Heuss hat sie vererbt; er ist das Modell, wie ihr genügt werden könnte. Zumal die Organisation der Soziologen, die unablässig gezwungen ist, gängige Anschauungen anzuzweifeln und abzuklopfen, in welchen das verstockte Bewußtsein sich festmacht, hat jegliche Veranlassung, auf ihr Mitglied Theodor Heuss stolz zu sein.
Das soziologisch Erstaunliche aber, das ich unterstreichen möchte, ist, daß Heuss trotz der Stigmata des Zivilisten und des Intellektuellen, in einem bedeutenden, von keinem sich Anbiedernden und Hemdsärmeligen verunstalteten Sinn, populär geworden ist. Er hat dem Begriff der Popularität, der trotz aller Spannung dem von Demokratie nicht nur sprachlich verschwistert ist, etwas von der unbotmäßigen Wahrheit zurückerstattet, welche die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ihm raubte. Neunmalkluge wissen immer wieder zu versichern, einer, der nicht autoritär auftrete und nicht gleichzeitig dem Volk nach dem Munde rede – beides ist im Rezept von »Mein Kampf« empfohlen –, auch keine Chance habe, als soziales Bild zu wirken oder, ganz einfach, bei den Massen sich durchzusetzen. Heuss hat das, wie mit einem unbeabsichtigten soziologischen Experiment, widerlegt. Es bestand zwischen ihm und den angeblich anonymen und entfremdeten Massen etwas kaum noch Vorstellbares: Kontakt ohne Demagogie. Wenn die erfolgreichen Demagogen ihren Gefolgsleuten gleichen und von ihnen sich unterscheiden nur dadurch, daß sie deren verdrückte Instinkte und Wünsche in ihrer Suada verströmen lassen, so glich umgekehrt Heuss den Millionen, die weit über seine politische Macht hinaus an ihm hingen, dadurch, daß er verkörperte, was in ihnen allen tiefer bereit lag als ihr kollektiver Narzißmus: die Idee des Bürgers einer Welt, in der man sich nicht zu fürchten brauchte. Diese Idee, und ihre deutsche Tradition, weit verschütteter als die Vorstellungen des Nationalismus, ist doch nicht unterzukriegen. Sie hat ihre Kraft daran, daß sie den Menschen das verheißt, was sie eigentlich ersehnen und was ihre bösen Träume von Macht und Herrlichkeit bloß verdrängen. Dabei war Heuss alles andere als weich, gar kein Humanitätsprediger; eher eigensinnig, in einer Weise auf sein Freiheitsrecht bedacht, die mit dem, was dann sein Amt ihm abverlangte, mühelos zusammenstimmte. Das Inkommensurable an ihm – selbst die vertraute Erscheinung hatte etwas Fremdartiges – muß die Menschen unendlich angezogen haben. Er war der Stellvertreter einer Art von Person, wie sie allgemein erst unter verwirklichter Freiheit gedeihen würde. In ihm schien der Dialekt unmittelbar Träger des Humanen; darum ist mit Heuss wie kaum zuvor in der deutschen politischen Sphäre Humanität zu einer Kraft geworden, welche bei den Massen Resonanz weckte.
Nach all dem ist es keine Phrase, daß er unvergeßlich bleiben wird. Denn was er war, darf nicht vergessen werden, wenn anders die deutsche Gesellschaft doch noch einlösen soll, was ihr immer wieder versagt war und was in Theodor Heuss eine kurze Spanne als Wirklichkeit allen vor Augen stand. Wir sind ihm dankbarer, als meine armen Worte es sagen können, und froh, daß er einer aus unserem Kreis war; was er ausdrückte, ist verbindlich auch für die Arbeit, die uns obliegt.
1964
Fußnoten
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