Gesammelte Werke
In einer Veranstaltung am zweiten Verhandlungstag des 15. Deutschen Soziologentages (vgl. oben, S. 703, Anm.) sprach Adorno seine Gedenkworte für Heuss.
Anhang
Juvenilia
Zur Psychologie des Verhältnisses von Lehrer und Schüler
Es wird in unsern Tagen wieder viel über Erziehung geredet; wie man vor nunmehr zwanzig Jahren von einem »Zeitalter des Kindes« reden konnte, so stehen auch jetzt mit politischen und religiösen Fragen pädagogische Erörterungen im Vordergrunde des Interesses. Der heiße Wille zur Erneuerung, der sich in unserer Zeit in allen Formen, in den extremsten Erscheinungen auswirkt, sucht das Grundsätzliche in der Not der Gegenwart, und hinter jedem Schlagwort trifft er auf letzte Fragen. Wie die Gedanken »Sozialismus« und »Völkerversöhnung« auf religiöse Grundgedanken zurückgeführt werden, und da, wo oberflächliche Köpfe von »Materialismus« reden zu können glaubten, eine neue, tiefe Begeisterung, eine Sehnsucht nach letzter Befreiung aufloht, so wird auch dort, wo sich – rein zeitlich gesprochen – die Wurzeln des Individuums zeigen, in der Erziehung, nach einer Neugestaltung von innen heraus, vom Grundsätzlichen aus gesucht, und es wird wieder um das
Gedankliche
gestritten.
Das ist ja vielleicht das wahrhaft Große unserer Zeit, daß wir wieder gelernt haben, um eine Idee zu streiten, das, was unsere Zeit mit den größten Epochen der Weltgeschichte: den Anfängen des Christentums, der Religionsstiftung Mohammeds, der Zeit der Staufenkaiser, der deutschen Reformation, der französischen Revolution gemein hat. Zweifellos bedeutet eine Zeit, in der sich Menschen um ihres Glaubens willen, also ohne jeden äußeren Machtgedanken mit Taten bekämpften, selbst bis zur grausamen Vernichtung der Persönlichkeit des Andern schreitend, einen gewaltigen inneren Fortschritt gegenüber einer solchen, in der sie in feiger und satter Duldsamkeit geistig aneinander vorbeigehen und letzten Endes den tiefsten Fragen unseres Lebens gleichgültig gegenüberstehen.
Und eine so glühende Subjektivität beherrscht auch unsere Tage. Als naturnotwendige Reaktion auf die Herrschaft des Nützlichen, Ungeistigen, Verstandes-, nicht Vernunftgemäßen tritt die Herrschaft des Ideellen, Gefühlsmäßigen, Ekstatischen, vielerorten des Utopischen, an Stelle der Wertschätzung tritt das Werturteil, an Stelle der Uniformierung des Geistes die Bedingtheit der Anschauung und Erkenntnis durch das Ich.
Wohl liegt in dieser Subjektivität ein Befreiendes, aber ihre Anwendung auf das tatsächliche Leben birgt doch ohne Zweifel ernste Gefahren in sich. Nicht nur vom rein philosophischen Standpunkte aus, nicht nur von der Erkenntnis ausgehend, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, daß alles Gedankliche sichtbar in Erscheinung treten muß, um Tat zu werden, zu glauben, daß ein Ideal »erreicht« werden kann – rein praktisch gesehen: es ist auf Gebieten, wo man mehr oder minder mit Tatsächlichkeiten rechnen muß, unmöglich, die Dinge so zu sehen, wie sie sein
sollen,
nicht so, wie sie sind. Das war ja das Verhängnis der französischen Revolution, daß sie ihre subjektiven Grundsätze bis zum Äußersten ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit zur Anwendung brachte, daß sie aus der reinen Idee die Wirklichkeit schaffen wollte, bis die Wirklichkeit sie verschlang.
In bezug auf die Schule – und von der Schule soll ja hier die Rede sein – hat die Subjektivität unserer Zeit gleichfalls gewirkt – und erheblich gewirkt. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, warum gerade sie so sehr in den Mittelpunkt der Debatte gezogen wurde – Gründe politischer, religiöser und allgemein kultureller Natur wirken darin zusammen. Jedenfalls – die Schlagworte: Einheitsschule, Abschaffung des Religionsunterrichtes, Schulgemeinde, Schülerrat haben die Gemüter heftig erregt, allgemeine, kulturelle Gedanken wurden vielfach mit parteipolitischen Zielen identifiziert. Gedanken zu Programmpunkten erniedrigt, verloren ihre ursprüngliche Kraft, eine geschickte Gegnerschaft wußte sie zur Gefahr umzudeuten.
Nun wurde bereits gesagt, daß an Stelle der Wertschätzung wieder das Werturteil getreten ist. Man könnte noch hinzufügen: das moralische Werturteil. Es liegt in dem religiösen Zug unserer Zeit, daß nach der Periode der Skepsis die Dinge nach der Alternative von gut und böse bewertet werden. Und gerade hierin ist man in den Schulfragen bei einem Äußersten an Subjektivität, Formalismus und –
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