Gesammelte Werke
seien wir offen – auch Pharisäismus angelangt, so daß es vielleicht einmal gut ist, rückwärts zu blicken und daran zu denken, daß die Menschen nicht allein sich nach ihren inneren Gesetzen entwickeln, sondern auch Kinder ihrer Zeit und ihrer Umgebung sind.
Wobei ich gleich bemerken möchte: es ist natürlich unmöglich, hier eine vollständige Wesensbeschreibung der seelischen Erscheinungen, wie sie sich in der Schule offenbaren, zu geben. Es soll hier nur auf die wichtigsten und grundsätzlichsten dieser Erscheinungen hingewiesen werden.
Wenn wir die Kämpfe um die Neugestaltung der Schule betrachten, so fällt uns auf, daß ihr Kernpunkt – abgesehen von den rein religiösen Fragen – das Verhältnis von Lehrer und Schüler ist. Und dieser Punkt beansprucht bei dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand unserer Schulen, der eine erfreuliche Höhe und auch eine gewisse Ausgeglichenheit erreicht hat, zweifellos das größte Interesse. Denn er berührt unmittelbar das Seelische, das Menschliche im Schüler und Lehrer – das, wo eine Erneuerung am stärksten angestrebt wird.
Aber dieser Punkt erheischt auch eine vorsichtige Behandlung, ein Fernhalten vom Dogmatischen. Die Beziehungen von Seele zu Seele – und um solche handelt es sich bis zu einem gewissen Grade hier doch zweifellos – vertragen kein Dogma. Schon das Typisieren ist bei solchen Fragen gar gefährlich – man bedenke nur, wie leicht der Typ zur Karikatur wird. Und doch – hier ist mehr typisiert und dogmatisiert worden, als irgend sonstwo. Wo man auch sein moralisches Urteil zurückhielt – auf die Schule wandte man es uneingeschränkt an. Und zwar mit einer Primitivität, die um so verblüffender wirkt, als man weiß, daß diejenigen, die da den Lehrer schwarz und den Schüler weiß malen, sonst keineswegs so absolut in ihrem Urteil sind – und doch finden wir hier die verschiedensten Individualitäten – ich nenne Frank Wedekind, Hermann Hesse, Emil Strauß, Georg Kaiser, Otto Ernst, Leonhard Frank – in
einer
Tendenz vereinigt.
Wie kommen nun diese verschiedenen, vielfach in ihrem Letzten verschiedenen Geister, deren einigen man ihre hohe Bedeutung wahrlich nicht absprechen kann, zu ihrem gleichen Urteil? Sollten wirklich alle Lehrer Sadisten, Betrüger oder – bestenfalls – nüchterne Durchschnittsmenschen (Strauß) sein? Soll sich diese rein
berufliche
Klasse wirklich aus einer Auslese von mehr oder minder karikaturenhaften Scheusalen rekrutieren?
Schon eine ganz nüchterne Erwägung spricht dagegen: wie sollte es möglich sein, daß ein Beruf, der doch schließlich nicht gerade dem Verbrechen Vorschub leistet, ausschließlich von ausgeprägten Verbrechernaturen ausgeübt wird, während in anderen Berufen sich solche Verbrechertypen doch recht selten finden? Warum sind nicht vielmehr diese Menschen Mörder oder Hochstapler geworden, wozu sie doch zweifellos besser geboren wären?
Beruf –
in diesem Worte liegt der grundlegende Irrtum der erwähnten Schriftsteller. Sie fassen den Lehrer als einen durchaus bösen Menschen auf, der aus Bosheit – um Kinder zu quälen – Lehrer geworden ist, – in Wahrheit aber ist der Lehrer ein Mensch wie jeder andere, oft stärker als jeder andere im Glauben an die Kraft seines Wirkens, in dem nur durch eine ganze Reihe
äußerer
Faktoren eine Reihe von Eigenschaften ausgebildet worden sind, die auf seine Gesamtentwicklung von höchstem Einfluß sind. Der Mensch wird durch den Beruf zum »Lehrer«. Eben denselben Einflüssen – und das ist der zweite Irrtum unserer Schriftsteller – sind aber auch die »Schüler« zum großen Teil ausgesetzt. Auch ihr Wesen wird durch äußere Umstände bedingt, und oft sieht sich der Lehrer dem Typus »Schüler« genauso gegenübergestellt, wie der Schüler dem Typus »Lehrer«, so daß das Seelische der Beziehungen zwischen beiden einfach durch das Überwiegen der äußeren Faktoren völlig aus dem Gesichtskreise entschwindet.
Bedingend für die Erkenntnis des Verhältnisses oder richtiger der Einzelbeziehungen von Lehrer zu Schüler ist die Erkenntnis der äußeren Faktoren. Welches sind nun diese äußeren Faktoren?
Zunächst: die Schule ist eine Vereinigung einer großen Anzahl von Menschen ohne jedes psychologische Gesetz, nach rein zufälligen Umständen. Denn daß die einzelnen Arten der Schulen vorwiegend von bestimmten Gesellschaftsklassen frequentiert werden, bringt keine seelische Schichtung mit sich – im Gegenteil, es verhindert häufig
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