Gesammelte Werke
eigentümlichen, schroffen und weichen, weh-ironischen Einheit geworden ist – ein Typ, tragisch schon deshalb, weil er wie kein anderer gehaßt wird: der des »Wohlmeinenden«.
Noch einiges wäre zu bemerken über die Entwicklung im
älteren
Schüler.
Auf den ersten Blick erscheint diese sehr weit entfernt von der des jüngeren – ist es aber in Wirklichkeit nicht. Zwei Momente sind hier entscheidend.
Zunächst: im werdenden Manne wird das Persönlichkeitsbewußtsein lebendig; er empfindet sich viel stärker als eine Einheit denn früher, und seine Hingabefähigkeit wird vermindert oder richtiger gesagt konzentriert; hinzu kommen Elemente der rein körperlichen Entwicklung, und im Jüngling erwacht und erstarkt die
Gefühlsscham,
die alle die oben beschriebenen Erscheinungen nicht etwa aufhebt, sondern nach innen richtet, sie gleichsam latent und darum manchmal (Freund Hein!) besonders intensiv zum Erlebnis bringt.
Um ein Beispiel zu nennen: während früher der Schüler fragt: ist dieser Lehrer gut? oder streng?, wird er nun fragen: kann er etwas? oder kann er nichts?, ohne daß doch darum im Wesentlichen – der zugrunde liegenden Empfindung – ein Unterschied besteht: das Intellektuelle der Frage ist nur ein Mantel, den die Gefühlsscham der ursprünglichen Empfindung umlegt.
Hiermit sind viele Erscheinungen erklärt, die wesentlich von den früheren verschieden scheinen, ohne es zu sein: die Gefühlsscham stellt ein gleichsam positives, verinnerlichendes Entwicklungsmoment dar. Ein negatives tritt hinzu.
Oben wurde ausführlich von der Aufstellung subjektiv bedingter und unrichtiger Werturteile geredet, von der verhängnisvollen Wirkung der Einstellung des Kindes auf das Nur-Verstandesmäßige. Diese Werturteile sind ursprünglich zweifellos durch innerlich wahrhaftige Seelenvorgänge geschaffen: ihr seelischer Kern beginnt jedoch mit der Zeit zu schwinden, und dann erst setzen jene gefährlichsten Wirkungen ein.
Das geschaffene, absprechende Werturteil geht zunächst in das Bewußtsein des Urteilenden über, er beginnt es in jeder Faser zu leben und unbedingt zu glauben. Er äußert aber auch sein Urteil, solche hören es, die es nicht erlebt haben, es schleift sich ab, wird als selbstverständlich empfunden, wird schließlich traditionell, wird schließlich zur
Lüge.
Und schließlich kommt es dahin, daß schon der
Begriff
Lehrer a priori verurteilt und gehaßt wird, ohne daß der Schüler noch das Menschliche zu erfühlen imstande ist. Und was liegt auf dieser Entwicklungsstufe näher, als den verhaßten Begriff »Lehrer« für vogelfrei zu erklären? Jedes Mittel – auch das unvornehmste und niedrigste – im Kampfe gegen ihn zu sanktionieren, jede Lüge ihm gegenüber zu rechtfertigen. Und die Krone der Entwicklung ist dann, wenn die Vielen ihre Macht gegenüber dem Einzelnen empfinden, sich zusammenschließen, eine Interessengemeinschaft zu bilden, um ihn – vielfach unter dem Titel »Kameradschaft« – zu bekämpfen, ihn seelisch zu vernichten ...
Wohl bin ich mir der Tatsache bewußt, daß die hier dargestellten Entwicklungsmöglichkeiten nicht die alleinigen sind; im Gegenteil, wohl in der Mehrheit der Fälle wird die Entwicklung anders, freundlicher verlaufen, als hier dargestellt. Eine starke und reife Lehrerpersönlichkeit wird stets die entscheidenden Augenblicke erfühlen und die Spannung lösen. Aber dort, wo die Beziehungen gedeihlich sind, ist ja eine Reform nicht nötig: die Schattenseiten sind es, wo jenes Neue einsetzen soll, in dessen Dienst sich auch unsere Zeitung stellt * . Und um Besserung zu schaffen, ist eines not: völlige, unverhüllte Erkenntnis des Tatsächlichen und seiner Verkettungen. Sollte diese Arbeit zu jener Erkenntnis beigetragen haben, so hätte sie ihren Zweck erreicht.
1919
Fußnoten
*
Gemeint ist die »Frankfurter Schüler-Zeitung«, deren erste Nummer im Oktober 1919 erschien; sie enthielt u.a. ein Geleitwort von Reinhold Zickel (vgl. unten, S. 756ff.) und den ersten Teil des vorliegenden Aufsatzes von Theodor W. Adorno, der mit zwei weiteren Obersekundanern auch verantwortlich für die »Frankfurter Schüler-Zeitung« zeichnete.
Die Natur, eine Quelle der Erhebung, Belehrung und Erholung
Abituriums-Aufsatz
Das Wort »Natur« bedeutet in seinem allgemeinsten Sinne die Gesamtheit des unbewußten Daseins schlechthin. Zwar verengte der oberflächliche Sprachgebrauch diese Bedeutung, doch ohne sie grundsätzlich zu ändern. Der
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