Gesammelte Werke
gefährlich, weil es drohte, den Menschen zum Maß aller Dinge werden zu lassen und ihn unehrfürchtig zu machen. Dieser Gefahr entgeht er, wenn er in seinem Streben nach Erkenntnis zum unbewußten Dasein zurückkehrt, zur Natur.
Die Natur wirkt belehrend zunächst durch die Fülle von Erscheinungen, die der Mensch aufnimmt. Diese Fülle durchdringt ihn, ohne daß er eine menschliche Zweckidee darin zu finden vermöchte, und offenbart sich ihm darum in ihrer ganzen Reinheit. Die Erfahrungen in der Natur sind unvergleichlich viel grundsätzlicher und gültiger als alle in der Gesellschaft, weil keine Bewußtseinskomplizierungen sie umhüllen. Von allen Erfahrungen sind die der Natur am unverfälschtesten und darum der reinen Erkenntnis am nächsten.
Aber die Erkenntnisse, die die Natur dem Menschen übermittelt, bleiben nicht auf das Bereich des Nur-Erfahrunghaften beschränkt. Schon im Erfahrunghaften offenbaren sich durch den bloßen Ablauf der Naturgeschehnisse die Kausalgesetze: wenn Wolken am Himmel hängen, regnet es, wenn warmer Regen fällt, knospen die Pflanzen, das menschliche urteilende Bewußtsein greift über diese Erfahrungstatsachen hinaus, nachdem es ihren ursächlichen Zusammenhang aufgewiesen hat, und gelangt schließlich synthetisch zur Erkenntnis, daß ein ursächlicher Zusammenhang alles Naturgeschehen bedingt, daß die Natur nicht Chaos, sondern Kosmos ist.
Diese Erkenntnis ist entscheidend für die Gestaltung der Weltanschauung des Menschen. Sie zeigt, daß selbst im Unbewußten alles zweckhaft und sinnhaft geschieht, absolut zweckhaft, nicht unter dem Blickpunkte des Menschen. In den Verkettungen des Bewußten könnten wir zu dieser Erkenntnis kaum je gelangen, obwohl wir gerade dort sie vorauszusetzen pflegen, sondern würden in den Widersprüchen der bewußten Seele müde entsagen. Die Natur aber kann uns lehren: daß alles Dasein sinnvoll ist.
– Durch Erholung kann die Natur das Ich zu sich zurückführen, durch Belehrung ihm die Welt als Kosmos, als ein sinnvolles Ganzes entgegenstellen. Und noch ein drittes vermag sie: sie kann den Menschen aus der Vereinzelung des Ichhaften in die sinnvolle Ganzheit, ins Kosmische emportragen, sie kann ihn
erheben.
Das Naturerlebnis vermittelt dem Menschen zunächst andere Größen- und Wertevorstellungen, als er sie im Bereich des Bewußten zu empfangen pflegt. Er, gewohnt, alle Dinge nach sich zu messen, sieht sich einer Welt gegenüber, die sich mit diesem Maße gar nicht messen läßt. Der Mensch, der in seinem Eigenleben immer wieder die Tragik des Gebundenseins im Endlichen erleben muß, darf in der Natur die Unendlichkeit erleben, das unendlich Große ebenso wie das unendlich Kleine. Die gleiche Fülle der Welt, der er seine gültigsten Erfahrungen dankt, führt ihn über das Begreifbare hinaus zum Unbegreifbaren und zwingt ihn zur Ehrfurcht. Und dieser Zwang ist der schönste: nur den Kleinlichen macht er klein, der Große wächst in seiner Ehrfurcht empor zum Unbegreifbaren, er ist, mit des Dichters Worten zu reden, ein Funke nur vom heiligen Feuer, ein Dröhnen nur der heiligen Stimme.
Wäre die Natur sinnlos – dann freilich müßte sie das Ich zerschmettern. Aber die Erkenntnis hat sie als sinnvoll erwiesen. Und der ehrfürchtige Mensch kann in der Natur den Geist finden, weil er den Sinn finden muß. Der Geist ist in der Natur als Gesetz gestaltet: und so erlebt der Mensch das Gesetz, gegen das er in seinen Lebenskreisen stündlich sich auflehnen möchte, im Unbewußten wirkend, und eine Ahnung fällt in ihn, daß dies große Gesetz auch seiner Seele die Bahnen vorschreibt wie den Sternen. Dann weiß er sich eins mit den Sternen und allen unbewußten Dingen um ihn, die alle vom Geist-Gesetz voll sind und schwer wie Früchte an dem Baum: Gott.
Und noch eines erhebt ihn, ein Wiederfinden: er, der die Seele im Bewußten verlor, findet sie wieder im Unbewußten. Das Irrationale hat er aus seinem Bereich verdrängt: nun sieht er es im Baum und hört es im Bach. Er muß feine Augen haben und feine Ohren: aber dann begegnen ihm leise und mit großen guten Augen all die heimlichen Dinge, die den feinen Maschen seines Begriffsnetzes entschlüpft waren. Darum ist die Natur von all dem Volk geliebt worden, das auf heimliche Dinge geht wie die Zigeuner auf Diebstahl, von Dichtern und Musikanten und Taugenichtsen, aber auch von denen, die ums Letzte und Heimlichste kämpfen mit dem wachen Mut verwegener Gedanken; sie haben alle die Natur
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