Gesammelte Werke
geliebt, Goethe und Hölderlin, Schubert und Mahler, Eichendorff und Nietzsche und Maupassant; alle diese ungleichen Menschen haben sich verloren, um sich zu finden, sie haben ihre Seele gefunden, sie wurden erhoben in ihre Heimat.
– Es soll nicht geleugnet werden, daß in diesem Sich-Verlieren Gefahr ist; daß weiche und schwache Menschen in die Natur gehen können, nicht um sich zu verlieren, nicht um sich zu finden, sondern um sich zu fliehen. Aber wenn sie sich nicht wiederfinden: ist es ein Schaden? Nein. Die Natur ist ihnen auch nur das, was ihnen alles ist: die Dekoration für ihr armseliges, kleines Ich, der Hintergrund, vor dem sie ihre Szenen mimen.
Denen aber, die Mut haben zum Leben, ist in unserer späten müden Zeit die Natur die letzte Wurzel der Kraft. In dem Naturerlebnis vollzieht sich die Gestaltung der Welt im Ich: eine gestaltete Welt geht in ein gestaltetes Ich sinnvoll ein, leuchtend im Abglanz des Göttlichen. Die Welt aber im Ich zu gestalten, ist der Sinn des Lebens. Nur durch die Gestaltung der Welt wird das Ich Persönlichkeit.
Dies Ziel zu erreichen, gibt uns die Natur den starken Auftrieb. Wir wollen ihr dankbar sein.
Ostern 1921
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»Meine stärksten Eindrücke 1953«
An erster Stelle möchte ich die Neuausgabe von »Du côté de chez Swann« nennen, mit der mein Freund Suhrkamp eine vollständige Übertragung der gesamten »Recherche du temps perdu« eröffnet. Nicht, daß es sich um ein Novum für mich gehandelt hätte – seit Jahrzehnten spielt Proust in meinem geistigen Haushalt eine zentrale Rolle, und ich könnte mir ihn schlechterdings nicht wegdenken aus der Kontinuität dessen, worum ich mich bemühe. Aber sein Werk ist durch eine Reihe unglücklicher Fügungen, die schon vor dem Ausbruch des Dritten Reiches begannen, für Deutschland verlorengegangen, und die außerordentliche Übertragung, die Walter Benjamin und Franz Hessel begonnen hatten, wurde nie zu Ende gebracht. Von der Erfahrung Prousts in Deutschland verspreche ich mir Entscheidendes, nicht im Sinne der Nachahmung, sondern in dem des Maßstabes. Wie man jedem deutschen lyrischen Gedicht anhört, ob es dem Geist nach vor-georgisch oder nach-georgisch ist, auch wenn es mit der georgischen Lyrik selber gar nichts zu tun hat, so sollte sich wohl die deutsche Prosa scheiden nach einer vor-proustischen und nach- Wer an seiner Forderung, die gewohnten Oberflächenzusammenhänge zu durchbrechen, die genauesten Namen für die Phänomene zu finden, sich nicht mißt, sollte als zurückgeblieben ein schlechtes Gewissen vor sich selber bekommen. Angesichts des desorientierten Zustandes der deutschen Prosa, wenn nicht der Krisis der Sprache überhaupt, ist Rettendes zu hoffen von der Rezeption eines Dichters, der das Exemplarische vereint mit dem Avancierten. Vielen Franzosen gilt Proust für ›deutsch‹. Ich wüßte mir literarisch nichts Schöneres zu wünschen, als daß die Deutschen den säkularen Dichter verbindlich und in all seinem abgründigen Reichtum so sich zueigneten, wie nur je einen aus anderen Jahrhunderten.
Danach hätte ich Kafkas Milena-Briefe zu erwähnen. Jede unmittelbare Beziehung des Kafkaschen Gehalts auf die Ereignisse seines Lebens ist mir verdächtig. Aber gerade die unendliche Distanzierung seines œuvres vom Empirischen verleiht auch seinen privaten Äußerungen einen Charakter des Geprägten, der sie weit über den privaten Anlaß hinausträgt. Nicht, weil Kafka in diesen Briefen sein Herz entblößte, oder weil sie etwa das Rätsel auflösten, sollte man sie lesen, sondern weil sie Produkte des großen Schriftstellers sind, die schriftstellerisch für sich selber einstehen.
Schließlich darf ich noch sagen, daß ich in Los Angeles zum erstenmal auf einer Schallplattenaufnahme das Kol Nidre von Schönberg hörte, ein etwa zwanzig Jahre zurückliegendes Werk, das ich bis dahin versäumt hatte. Es ist eines jener Stücke, in denen Schönberg mit der Erfahrung der Zwölftontechnik sich an einem älteren Material, dem erweiterter Tonalität, mißt. Irre ich mich nicht, so rechnet es an gedrängter Fülle, Ausdruckskraft und spezifischem Ton zum Vollkommensten aus seiner Hand. Auch ihm wäre zu wünschen, daß es in Deutschland endlich vom Bewußtsein nach Hause gebracht würde.
»Die zehn größten Romane der deutschen Literatur?«
Sehr gern würde ich Ihre Umfrage beantworten. Aber es ist mir einfach nicht möglich. Zunächst deshalb, weil ich nicht aus dem
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