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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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besonderem Maße. Es ist berechtigt, solange es nicht über seine subjektive Bedingtheit herauswächst – macht es Anspruch auf objektive Gültigkeit, so wird es in seinen Wirkungen verhängnisvoll.
    Freilich – zunächst geht ja das kindliche Werturteil durchaus vom Ich aus. Erfragt wird es etwa in der Alternative: Ist dieser Lehrer gut? Oder ist er streng? »Streng« ist eine ganz richtige Einschränkung des Urteils »böse« in »für mich böse« – denn so faßt das
Kind
ja den Begriff »streng« zweifellos auf.
    Aber dieses Einschränken – es ist seiner Herkunft nach schwer zu erklären – schwindet bald und mit ihm der gefühlsmäßige Zusammenhang des Urteils mit dem Ich. Das Urteil wird nun geradezu formelhaft, wird zum
Vorurteil
gegen den Begriff »Lehrer« überhaupt – und damit ist das Verhältnis von Lehrer und Schüler in seinen Grundlagen erschüttert.
    Bestimmend für die seelischen Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler wirkt das Aufstellen und Annehmen subjektiv bedingter und erstarrender Werturteile von seiten des Schülers.
    Denn – jener Geist der grundsätzlichen Ablehnung der Erziehenden bringt naturgemäß eine seelische Reaktion im Lehrer mit sich.
    Dem Lehrer ist zur Erreichung seines Zieles eine Reihe sehr starker Machtmittel in die Hand gegeben worden. Diese Machtmittel wendet er gegen den Widerstand an, um ihn zu brechen: das gelingt ihm wohl im Einzelnen, aber nicht im Grundsätzlichen; der Widerstand ist stark.
    Und nun beginnt in ihm – oder kann wenigstens beginnen – eine ganze Reihe seelischer Faktoren sich zu entwickeln.
    Der Schüler empfindet den Lehrer als Nehmenden – der Lehrer ist aber vielmehr ein Gebender und ist sich dessen wohl bewußt – er empfindet sich also vom Schüler nicht allein
falsch,
sondern
unter
-bewertet – und wessen Seele kann das leicht ertragen? Er ist der Überlegene an Alter, Reife, Wissen – ihm Unterlegene treten ihm entgegen, und lebendig wird ihm der Wille zur Macht, und zwar in einer ganz spezifischen Form: der des geistigen Hochmutes. Der Lehrer tritt dem Schüler auf dieser Entwicklungsstufe etwa mit der gleichen Seelengebärde entgegen, mit der ein Mensch körperlich einen Schwarm lästiger, kleiner Mücken abwehrt – und die Folge hiervon wieder braucht kaum mehr ausgeführt zu werden.
    Wird nun (und wie bald geschieht das) im Lehrer der Gegensatz bewußt, so entsteht auch in ihm ein Werturteil.
    Der Lehrer übersieht – darin dem Schüler gar nicht unähnlich – das Triebhafte im Verhalten des Schülers; das ist sehr leicht begreiflich, weil ja der Schüler – wie oben ausgeführt – mit Vorliebe dem Lehrer gegenüber sich eine Verstandesmaske aufsetzt. Viele der entscheidenden seelischen Vorgänge im Kinde sind dem Lehrer im Laufe der eignen Entwicklung völlig fremd geworden, besonders dem Spieltrieb, der in seiner Bedeutung kaum hoch genug angeschlagen werden kann (Grausamkeit!), steht er verständnislos gegenüber, empfindet ihn als nur
feindlich,
ohne ihn in einem höheren Sinne als dem der Fröbelmethode dem Ziele nutzbar machen zu können. Und das alles schafft in ihm ein moralisches Werturteil, dem die Objektivität durchaus abzugehen pflegt, das schon deshalb sehr gefährlich ist, weil man an die kindliche Seele nicht mit der üblichen Moral-Maschinerie (als deren Schwungrad der »schlechte Charakter« anzusehen ist) herangehen darf, weil deren Getriebe sie zermalmt.
    Und doch ist es wiederum begreiflich, daß der Lehrer gerade zu einem moralischen Urteile gelangt. Fast jeder Lehrer (wenn er auf diesen Namen überhaupt Anspruch machen will) gibt sich seinem Berufe hin, getragen von Idealen, von Idealen, deren Nichterreichbarkeit er in den weitaus meisten Fällen nur allzu rasch erfahren muß. Unerfüllte Ideale führen aber fast stets zu ethischen Werturteilen: das Ethos, das die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren erweckt, wird sich in erster Linie auch gegen das Nicht-Erreichen-Können aufbäumen.
    Ein wichtiger Gradunterschied besteht zwischen den Entwicklungsformen bei Lehrer und Schüler: im Lehrer (dem gereiften Menschen) wird sich die Entwicklung fast stets viel individueller vollziehen als im Schüler. Freilich – auch beim Lehrer bilden sich – je nach der Entwicklungshöhe der Persönlichkeit – bestimmte Typen heraus.
    Nur einen Typus möchte ich erwähnen, einen Typus, den ich eigentlich als tragisch empfinde: in dem im Laufe der Zeit guter Wille, Geisteshochmut, Skepsis und Resignation zu einer

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